Die Netzkünstler von ubermorgen.com legen sich gerne mit den Größen der Branche an. Zur Zeit bedienen sie sich in den digitalen Bibliotheken von Amazon. Darf Kunst so mit Copyright umgehen?
Von Chris Köver
"Stellen Sie sich vor, Sie durchsuchen einen gigantischen Buchladen, Millionen Seiten mit nur einem Klick", lockt Amazon auf seiner Webseite. Es geht um die Funktion
"Search Inside"
. Sie ermöglicht es den Kunden des Online-Buchhändlers seit einiger Zeit, im Buchangebot gezielt nach bestimmten Stichwörtern zu suchen. Das Blättern im virtuellen Buchladen, hofft man, soll die Kaufentscheidung erleichtern und so letztlich mehr Bücher losschlagen. Dass es sich bei diesem Buchladen jedoch um ein Geschäft handeln könnte, aus dem jeder Kunde mit dem gewünschten Titel unterm Arm einfach herausspaziert, hat sich Amazon sicher nicht so vorgestellt.
Genau das wollen jetzt aber die Wiener Künstler von ubermorgen.com möglich machen. Für ihre neue Aktion
"amazon noir"
saugt die Gruppe ganze Bücher aus den Datenbanken des Online-Händlers – um sie dann kostenlos zu verteilen.
Möglich wird das durch Amazons eigene "Search Inside"-Funktion. Mit dem Service, den Amazon Deutschland seit Sommer 2005 anbietet, kann im Volltext von mittlerweile über 250.000 Titeln gezielt nach Stichwörtern gesucht werden. Das ist mehr als der Bestand einer mittelgroßen Stadtbibliothek. Als Suchergebnis bekommt der Kunde die Seiten, auf denen sein Suchwort auftaucht, auf den Bildschirm. Zu sehen gibt es jedoch nur einen kurzen Ausschnitt – mehr als ein oder zwei Mal vor oder zurück blättern ist nicht drin. Das Ganze ist schließlich als Leseprobe gedacht.
In diese Hintertür haben jetzt ubermorgen.com ihren Netzkünstler-Fuß geschoben. Eine von Projekt-Programmierer Paolo Cirio gebaute Hack-Software bombardiert Amazon so lange mit strategisch platzierten Such-Anfragen, bis es alle Seiten eines Buches beisammen hat. Diese setzt es dann zu einer vollständigen digitalen PDF-Version zusammen, die herunter geladen und weiterverteilt werden kann.
Noch ist das Projekt allerdings nicht gestartet. Ungefähr 60 Titel habe die Gruppe schon "geklaut", schätzt Hans Bernhard von ubermorgen.com. Bis zum offiziellen Start am 15. November sollen es mindestens 120 sein. Geplant ist, die Bücher "im eigenen virtuellen Haushalt zu verteilen", stellt der auf der
Webseite
veröffentlichte Begleittext zur Aktion in Aussicht. Wie das jedoch genau geschehen soll, wissen die Künstler selbst noch nicht. Ursprünglich wollte man die Titel direkt zum Download auf die Seite stellen. Mittlerweile halten sie es für wahrscheinlicher, dass über klassische
Peer-to-Peer
-Netzwerke verteilt wird - wohl auch aus Angst, verklagt zu werden.
Vielleicht, überlegt Bernhard, wird es sogar einen eigenen Such-Service geben. Dann könnte man auf der Seite von "amazon noir" Wunschtitel eingeben, und sie einige Stunden und ca. 5.000 Suchabfragen später komplett und kostenlos auf der Festplatte haben.
Welche Variante es letztlich aber auch sein wird, in jedem Fall geht "amazon noir" sehr frei mit den Urheberrechten der Verlage und Autoren um. Gut, kann man jetzt sagen, das ist schließlich Kunst. Und somit auch keine Straftat, sondern eine gewiefte und berechtigte Kritik am geltenden Urheberrecht mit all seinen Unzulänglichkeiten. Da soll eine Debatte angestoßen werden, das verdient Absolution.
Das war wohl auch die bevorzugte Lesart des
Edith-Ruß-Hauses für Medienkunst
in Oldenburg, das die Aktion mit 10.000 Euro fördert. Dort ist die Rede von einer "subversiven Online-Arbeit, welche die widersprüchliche Art und Weise hinterfragt, in der Urheberrecht angewandt wird." Auf die Frage, was denn daran genau subversiv sei, erwidert Leiterin Sabine Himmelsbach: "Die Arbeit greift das Thema Copyright und Nutzungsrechten im globalen Netz auf und stößt eine Diskussion an, die an die ursprünglich utopischen Ansprüche des Internets als frei zugängliche Plattform für Wissen und Information erinnert."
Bernhard und seinen Kollegen geht es aber nach eigener Aussage gar nicht um Copyright. Dass sie mit "amazon noir" die Rechte von Autoren und Verlagen verletzen, sehen sie eher als eine Art bedauerlichen Kollateralschaden. Was sie interessiert, ist der Effekt, den sie mit ihren provokativen Aktionen in den Medien und bei den Konzernen auslösen. "Wir experimentieren in globalen massenmedialen Netzwerken, ohne politische oder ideologische Absichten. Das ist eine Art Versuchsanordnung. Wir wollten sehen, wie sich die verschiedenen Beteiligten in dieser Situation verhalten," stellt Bernhard klar.
Ohnehin sind sich die Künstler keiner Schuld bewusst, denn "Amazon stellt die Bücher ja selbst ins Netz. Wir laden sie bloß auf legale Weise herunter und verteilen sie weiter." Nur: ganz so einfach ist es nicht. Denn erstens stellt Amazon natürlich nicht die vollständigen Texte online, sondern zeigt jeweils nur Ausschnitte. Auch darf "Search Inside" nur von solchen Kunden genutzt werden, die bereits etwas eingekauft haben – ein weiterer Versuch, den Zugang zu regeln.
Außerdem dürften ubermorgen.com die Texte selbst dann nicht weiterverbreiten, wenn sie vollständig im Netz stünden. "Diese Argumentation basiert auf einer gängigen Fehlannahme," sagt Till Kreutzer, Urheberrechtsanwalt und Redakteur bei
iRights.info
: "Man darf nicht alles weiterverwenden, bloß weil andere es online gestellt haben. Dem Urheberrecht nach entscheidend ist, ob man die Erlaubnis der Rechteinhaber hat." Eine Ausnahme für Kunst gebe es nicht. Fürchten müssten sich die Künstler nicht so sehr vor dem Netz-Konzern wie vor den Verlagen, glaubt er: "Wenn das tatsächlich umgesetzt wird, gebe ich Brief und Siegel, dass die sofort vor Gericht ziehen. Kunst hin oder her."
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Die Stärke bisheriger Aktionen von ubermorgen.com bestand gerade darin, dass sie Fehler und Schwachstellen im System ihrer "Gegner" erkannt und gegen sie gewandt haben. So nutzzen sie zum Beispiel
vergangenes Jahr
Googles eigene
Ad-Sense-Werbung
, um Google-Aktien aufzukaufen. Diese Guerilla-Aktionen dienten aber letztlich immer einem größeren Konzept: Im Falle von Google etwa dazu, auf die Monopolstellung des Netzdienstleisters hinzuweisen.
"amazon noir" dreht sich im Kern um Urheberrecht und die Frage wem welches Wissen auf welche Weise zugänglich sein sollte. Der Bücherklau von ubermorgen.com könnte tatsächlich, im Sinne des Edith-Ruß-Hauses, eine Debatte dazu anstoßen. Dass die Künstler selbst dieses Thema jedoch völlig ausblenden, kann man zwar als künstlerische Naivität abbuchen. Trotzdem macht es die Aktion im Vergleich zu früheren irgendwie schwach und – naiv.
Währenddessen läuft der Versuch von ubermorgen.com weiter. Die Presse? Wir liefern schon einen Monat vor dem offiziellen Start der Aktion Berichte. Das angegriffene Unternehmen? Gibt sich bisher noch zurückhaltend und vor allem bedeckt. Man prüfe die Situation und werde "entsprechend reagieren", lässt sich Pressesprecherin Christine Höger aus der Nase ziehen. Bisher haben weder ubermorgen.com, noch das Edith-Ruß-Haus Furcht einflößende Post aus dieser Richtung bekommen. Aber noch ist ja auch alles in der Testphase.