//Zitate-Blog//

Zitat des Tages

Es wird viel gesagt, wenn der Tag lang ist. Und es gibt viele lange Tage »

 

//Kochblog//

Rezeptor

Unser Topf soll schöner werden? Das Zuender-Kochblog hilft »

 

//Spielen//

Wir wollen Spaß

Kommt ins Bälleparadies – alle Spiele vom Zuender gibt es hier »

 

//Newsletter//

Post von Zuenders

Was gibt es neues aus der Redaktion? Unser Newsletter informiert Dich an jedem ersten Donnerstag im Monat. Hier anmelden »

 
////

Polen

Kommt mit uns!

Zwei Parteien, zwei Weltanschauungen – ist Politik so einfach? Zehntausende Menschen haben am Samstag in Warschau demonstriert.

Willkommen in Warschau, es ist neun Uhr morgens und der Himmel über dem Zentralbahnhof teilt sich in gut und böse. Im Osten strahlt ein breiter, tiefblauer Streifen, von Westen rückt eine graue Wolkenwand an. Heute ist der Tag der Entscheidung. „Wir bereiten uns auf Krieg vor“, zitiert die Zeitung einen Polizeibeamten, ein Politiker sagt: „Wir wollen keine Szenerie des Hasses.“

Fotogalerie Die Bilder des Tages

Seit vor einem Jahr die konservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ der Zwillingsbrüder Kaczyński an die Macht kam ( einer ist Präsident, der andere Regierungschef ), wird immer wieder das Bild vom alten und neuen Polen bemüht. Die Wendeverlierer, die Nichtloslassenkönner auf der einen Seite, die westlich orientierten Jungen auf der anderen. Das verbohrte Polen, das im Lauf seiner Geschichte von Europa selten Gutes zu erwarten hatte und es bis heute nicht tut – gegen das offene, das hoffnungsvolle, das vor zwei Jahren den Beitritt zur EU so fröhlich gefeiert hat.

Aber darf man das so sagen? Nein, eigentlich nicht. Denn natürlich ist alles viel komplizierter. Es gibt Zwischentöne und Zweifelnde, so sind die Menschen eben.

Doch heute, scheint es, müssen sie sich entscheiden. Seit Jahren waren in Polen nicht mehr so viele Demonstrationen an einem einzigen Tag angemeldet, wurden so viele Teilnehmer erwartet. Die Opposition hat zu einem Protestmarsch gegen die Regierung aufgerufen, die Partei der Kaczyńskis wird eine Gegenveranstaltung im Stadtzentrum abhalten. Anhänger beider Lager haben schon spät in der Nacht ihre Autobusse bestiegen, aus dem ganzen Land sollen sie nach Warschau kommen.

Auch die Liga Polnischer Familien demonstriert. Wer die politische Richtung dieser Partei zu beschreiben versucht, endet schnell in der politischen Folterkammer des zwanzigsten Jahrhunderts: Erzkatholisch, ultranational, fremden- und schwulenfeindlich, populistisch. Seit Mai dieses Jahres ist die LPR Teil der Regierungskoalition, Parteichef Roman Giertych ist Bildungsminister. Doch hier vor dem Sejm, dem Parlamentsgebäude, ist die Liga nur ein lockerer Haufen; der Platz ist zu groß.

Am Wegesrand verkaufen alte Männer Pamphlete über die jüdisch-sowjetische Weltverschwörung, Jüngere stehen mit finsterem Blick herum. Aus einer Batterie von Lautsprechern schmachten polnische Volkslieder, Ordner in neongelben Westen verteilen Blumen: Die Veranstaltung heißt „Marsch der weißen Rosen“, und jeder soll eine im Knopfloch haben. Dazwischen Transparente, die nichts fordern. „ Mlodzież Wszechpolska Gdańsk “, steht auf dem einen – die Allpolnische Jugend aus Danzig ist also da. „Nein den Totengräbern Polens“, sagt ein anderes.

„Warum bist du hier?“, frage ich einen. „Weil Samstag ist“, sagt er. „Und die LPR?“ „Ich sympathisiere mit deren Ideen.“ „Was bedeutet denn Nationalismus für dich?“, will ich wissen. „Nationalismus, das heißt, die Nation aufzubauen.“ „Was sind deine Ziele im Leben?“ Er schaut überrascht. „Ziele? Mein Philosophiestudium beenden, Familie haben und enge Freunde.“ „Was ist denn mit den anderen Parteien?“ „Nun, die haben andere Programme.“

Es knarzt in den Lautsprechern. „Willkommen zusammen. Hunderte von unseren Freunden stehen noch im Stau. Darum warten wir und lassen die Fahnen wehen. Entschuldigung, bitte noch einmal für die Damen und Herren von den Massenmedien.“

Überhaupt, die Fahnen. Wer keine hat, bekommt eine. Am Rand der Demonstration steht eine Horde vierzehnjähriger Mädchen, sie schwenken kichernd eine rot-weiße Stoffbahn. Ob die wissen, was sie hier tun? Ein Junge steht halb verschüchtert, halb gelangweilt an der Straße, seine Flagge hat er in der Armbeuge, die Hände in den Hosentaschen. Warum er gekommen sei? Er schaut verwirrt: „Ich weiß nicht.“ „Bist du denn Anhänger der LPR?“. Er winkt einen mit Schnauzbart heran, der neben ihm steht. „Der Vater soll antworten.“

Auch die liberale Bürgerplattform hat sich einen großen Ort gesucht. Auf dem Piłsudskiplatz stand einst das Sächsische Palais, bis es von der Wehrmacht gesprengt wurde. Seitdem ist es nur Päpsten gelungen, dieses riesige Feld im Zentrum Warschaus zu füllen. Jetzt wollen sie den Palast wieder aufbauen. Vom Balkon des alten Hotels Europejski ruft ein Sprecher ins Mikrofon. „Polska wolna“ – Freies Polen. Davor steht mit gesenktem Haupt die Statue des Feldmarschalls Piłsudski inmitten der Menge, jemand schwenkt eine Europafahne, als wollte er den Alten necken. Józef Piłsudski hat Polen nach dem ersten Weltkrieg in die Unabhängigkeit und später in eine Diktatur geführt – er gilt als Gallionsfigur der Rechten.

Die Menge wird warm, sie skandieren „Wir wollen Neuwahlen“, und: „Geht mit uns, nicht mit den Kaczyńskis“. Im Polnischen reimt sich das alles wunderbar. Familienväter machen Fotos, ein Dackel wedelt dazu heftig mit dem Schwanz. Zwanzigtausend sind gekommen, ruft es vom Balkon, zehntausend wird später das Fernsehen sagen. Der Zug setzt sich in Bewegung, Richtung Königsschloss am Palast des Präsidenten vorbei, wo jetzt Lech Kaczyński residiert. Der Eingang ist abgeriegelt, Soldaten blicken finster auf die Leute. „Was rufen denn alle?“, frage ich einen groß gewachsenen Studenten. Er schaut verlegen, sucht nach Worten. „Das ist ziemlich obszön.“ – „Hau ab, du Penner“, reime ich mir zusammen. Im Wahlkampf soll der Präsident das mal zu einem Bettler gesagt haben.

Der Student erzählt: „Ich mag die Bürgerplattform eigentlich nicht, alle ihre Vorschläge gehen mir nicht weit genug, letztendlich ist das auch nur eine konservative Partei. Ich habe sie nicht gewählt. Aber heute geht es gegen die Regierung, darum bin ich dabei.“ Ich frage ihn, was er von der Veranstaltung hält, die Menschen sind so fröhlich, ist das gelebte Demokratie? Er ist skeptisch. „Ist doch alles inszeniert.“ Die PO will in der nächsten Woche eine Abstimmung im Parlament gewinnen und versucht so, die öffentliche Stimmung zu kippen. „Da wird bestimmt nichts draus.“

Vor der St. Annen-Kirche gerät der Demonstrationszug in eine Hochzeit. Die Trauzeugin steht am Straßenrand und winkt mit einem Blumenstrauß, der Fahrer des alten Benz weiß nicht, wohin mit sich. Plötzlich singt die Menge. „Sto lat, sto lat“ – Hoch sollen sie leben. „Die haben viele Gäste auf ihrer Hochzeit“, lacht jemand. Und dann: „Weg mit der Regierung!“

Ins Zentrum der Stadt gerammt steht der Palast der Kultur und Wissenschaften . Stalin hat ihn dem polnischen Volk geschenkt. Nach der Wende dachten die Warschauer lang und laut darüber nach, das Symbol abzureißen, die Idee wurde aber verworfen - hauptsächlich aus finanziellen Gründen. Jetzt steht Jarosław Kaczyński, der Regierungschef, zu Füßen dieses Giganten aus der Vergangenheit und spricht über alte Seilschaften, die er zu zerreißen versucht. Vor mehreren tausend Anhängern redet er von Nation und Werten, der Volksgemeinschaft. Auch hier lachen und singen die Menschen, sind alte und junge versammelt. Verkniffene Seelen, die Angst vor der Zukunft haben, sehen anders aus.

„Wir wollen keine Demonstration frustrierter Politiker. Wir wollen eine fröhliche und patriotische Veranstaltung, darum wird bei uns Musik spielen“, hat ein Abgeordneter von „Recht und Gerechtigkeit“ gestern gesagt. Und wirklich: Kaum, dass Jarosław Kaczyński die Bühne geräumt hat, brüllt eine Rockband los. Schlecht, aber fröhlich. Der Platz leert sich zusehends.

Eine Dame im Wollmantel spricht mich an. „Ich war früher mal schön, müssen Sie wissen.“ Sie hat eine weiße Rose in der Hand, fröhliche blaue Augen, und wenn sie lacht, glaube ich ihr sofort. Was ich von der Veranstaltung halte, will sie hören und als ich mit den Schultern zucke, beginnt sie zu erzählen. „Vor über fünfzig Jahren bin ich durch die Trümmer dieser Stadt gelaufen, die Deutschen hatten alles gesprengt. Doch es herrschte eine Entschlossenheit, jeder wusste, was zu tun war. Mut, der sich aus dem Blut von Abertausenden Toten speiste.“ Ich schaue sie fragend an. „Das gibt es heute nicht mehr. Niemand weiß mehr, was richtig oder falsch ist. Aber,“ sagt sie, „dieses Wissen wird wiederkommen!“ Wann? „Vielleicht bald, vielleicht in dreißig Jahren. Das kann niemand ahnen.“

Inzwischen hat sich der Himmel zugezogen. Kein strahlendes Blau mehr zu sehen, aber die Wolken sind nicht so finster wie am Morgen, eher unentschlossen grau. Krieg hat es in Warschau heute nicht gegeben, alle Demonstrationen verliefen friedlich. "Die große Politik ist auf der Straße angekommen", hat ein Kommentator der einflussreichen Gazeta Wyborcza geschrieben. Das mag stimmen. Doch die Leute haben die Straße verlassen und sind nach Hause gegangen. Jetzt gehört die Politik wieder den Politikern.

Auch vor Ort:

Revolution beendet - Kein Kampf mehr um die Hamburger Hafenstraße

Viel Polen - Das Mitropa-Weblog

Drüber reden? - Dieser Artikel wird hier im Forum diskutiert

Nach Hause - Zuender. Das Netzmagazin


 
 



 

//  Startseite //  // Politik // Kultur // Leben // Schwerpunkte // Bildergalerien //  // Adam Green // Redaktionsblog // Rezeptor // Markus Kavka // Selim Oezdogan // Sonntagstexte //  // Zitat des Tages // Spiele //  //
//  IMPRESSUM //

 

ZUM SEITENANFANG