"Lost" ist mehr als eine Fernsehserie. Fans und Macher liefern sich um den Verlauf der Sendung eine interaktive Schnitzeljagd. Obwohl "Lost" fiktiv ist, machen sie längst auch vor der Realität nicht halt
Von Stefan Petermann
Manche behaupten, die Fernsehserie
Lost
würde die Geschichte einer Gruppe Überlebender eines Flugzeugabsturzes erzählen, die auf einer Insel stranden und herausfinden, dass diese Insel voller Geheimnisse ist. Diese Leute sprechen von den guten Leistungen der Hauptdarsteller, von den knappen Dialogen, die für eine Serie herausragenden Sets und Effekte, von der ungewöhnlichen Erzählstruktur. Aber hauptsächlich sprechen sie von einem Monster, welches man nie zu Gesicht bekommt, von seltsamen Fremden, von einer unbekannten Station unterhalb der Erde, von mysteriösen Funksprüchen und einer unerklärlichen Zahlenfolge.
Um das Wesentliche dieser Serie zu begreifen, muss man ins Internet gehen. Erst hier wird sie zu mehr als der Summe ihrer Teile. Wichtigster Anlaufpunkt für alle, die an den Verschwörungstheorien um
Lost
mitspinnen wollen, ist dabei
Lostpedia
, ein der Wikipedia nachempfundenes Online-Lexikon. Zu den bisher fast 50 Folgen existieren über 1400 Einträge, alle Theorien, Querverbindungen, Fakten und Annahmen sind dort vermerkt. Einzelne Einträge werden dabei vom Kollektiv ebenso vehement diskutiert, wie dies beim Wikipedia-Projekt der Fall ist.
Im Internet finden sich auch Homepages der Fluggesellschaft
Oceanic Airlines
und eines Unternehmens namens
Hanso Foundation
. Beide Firmen sind fiktiv und tauchen in der Serie auf. Die Homepages geben jedoch keinen Aufschluss darüber, dass sie Teil einer gigantischen Schnitzeljagd rund um das große Geheimnis von
Lost
sind. Sie wirken echt, auch außerhalb des Serien-Universums.
Die Zuschauer sind aufgefordert, sich an dieser Schnitzeljagd zu beteiligen. Nicht selten treiben sich die Autoren anonym in den Foren herum, greifen dort Vermutungen der Fans auf und verarbeiten diese dann in späteren Episoden.
Der Höhepunkt der Schnitzeljagd ist das interaktive Spiel
Lost Experience
. Um das Spiel zu lösen, müssen gemeinsam mit anderen Spielern Hinweise gesammelt werden. Dabei erhalten die Teilnehmer Informationen, die nicht in der Serie auftauchen, aber die fiktive Welt von Lost erweitern. Der Zuschauer wird zum Spieler und – mit Beginn der nächsten Staffel – wieder zum Zuschauer.
Lost
ist eine Serie über Verschwörungstheorien und der Lust daran, diese zu konstruieren. Die Serie benutzt alle Elemente, die zu einer guten Verschwörungstheorie gehören: grobkörnige 8mm-Filme, auf denen das Wesentliche nur unscharf zu erkennen ist, Wissenschaftler, die mit ernsten Gesichtern absurde Thesen erklären, wiederkehrende Symbole, vage Zahlenspiele, Andeutungen auf eine übergeordnete Organisation.
Lost
benutzt diese Fetzen und mischt sie mit den Geschichten der Hauptfiguren. Die Fetzen werden nie konkret. Der Zuschauer kann sich zu keiner Sekunde sicher sein, was er glauben darf.
Daurch wird
Lost
zu einem Turm aus Bauklötzchen, an dem jeder mitbauen darf. Die Autoren der Serie errichten das Grundgerüst, die Fans ergänzen jedes Stockwerk mit eigenen Steinen. Sie fügen Theorien hinzu, konstruieren Verbindungen zwischen den Charakteren, suchen in selbst gemachten Screenshots nach versteckten Hinweisen. Je höher Autoren und Fans den Turm gemeinsam bauen, desto beeindruckender erscheint er. Aber desto stärker gerät er auch ins Wanken.
Auch auf die Wirklichkeit hat
Lost
längst übergegriffen. In einer Folge liest einer der Überlebenden das Buch "Bad Twin" von Gary Troup. In verschiedenen Fanforen wurde daraufhin spekuliert: Der Titel sei eine Anspielung auf die Theorie, dass die Figuren auf der Insel geklonte Versionen ihrer selbst träfen. Die Autoren ließen diese These mittlerweile dementieren.
Dafür gibt es "Bad Twin" mittlerweile
bei Amazon zu kaufen
. Als Verfasser wird Gary Troup genannt, in der Autorenbeschreibung heißt es, Troup sei seit einem Flugzeugabsturz verschollen. Der besagte Flug 815 ist der Flug aus der Serie. Als das Buch erschien, wurde in der L.A. Times eine Anzeige geschaltet: "Don’t believe Bad Twin". Auftraggeber war die Hanso Foundation. Mit jedem neuen Hinweis auf eine Verschwörung wächst der Turm weiter.
Lost
wird manchmal bereits in einem Atemzug mit
Akte X
genannt. Die legendäre Sci-Fi-Serie war in den 90er Jahren so erfolgreich, dass der amerikanische Fernsehsender
FOX
sie damals über mehrere Staffeln weiterproduzierte, obwohl sich der Schöpfer Chris Carter dagegen aussprach. Darunter litt die Qualität: In den späteren Staffeln wechselten die Hauptdarsteller, der Verschwörungstheorie wurden so viele Details hinzugefügt, dass sie am Ende nicht zufrieden stellend zusammengeführt werden konnten.
Lost
könnte ein ähnliches Schicksal ereilen, wenn der Sender
ABC
, der die Serie ausstrahlt, nicht den Absprung findet. Bislang sind nur fünf Staffeln geplant, darauf haben sich die Macher festgelegt. Zwei wurden in den USA bereits gezeigt.
Auf einem Fantreffen forderte Autor Damon Lindelof die Anwesenden kürzlich auf, die fünfte und letzte Staffel von
Lost
zu boykottieren. ABC sollte keinen Grund finden, die Serie fortzusetzen. Vielleicht meinte er dies scherzhaft. Sicher ist das nicht.