Bund der Vertriebenen
Anderswo: Heimat
Opa lebt seit 60 Jahren in Berlin. Aber zu Hause ist er dort nicht. Auf dem "Tag der Heimat" hat er sich wieder daran erinnert. Für seinen Enkel ist das manchmal schwer zu verstehen.
Von Björn Siebke
Menschenmassen walzen die Rolltreppe im Berliner Kongresszentrum
ICC
hinunter. Die Haare sind grau und wohlgeordnet, die Kleidung ist förmlich. Sie kommen vom Festakt zum Tag der Heimat, den der
Bund der Vertriebenen (BdV)
hier ausgerichtet hat. Gerade hat Bundespräsident Horst Köhler
gesprochen
und ein paar andere wichtige Menschen. Jetzt schaut man überall in erschöpfte Gesichter.
Die Teilnehmer des Festakts haben eines gemeinsam: Ihnen wurde etwas gewaltsam weggenommen - Heimat nennen sie es. Das war vor 60 Jahren,
das Thema ist erledigt, könnte man denken. Doch die Heimatvertriebenen hören nicht auf, zurück zuschauen. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen, die seit 60 Jahren dieselbe ist, aber für sie immer noch aktuell.
Plötzlich bekommt die graue Menge einen rothaarigen Fleck. Christoph Kunert heißt er und ist gerade einmal 20 Jahre alt. Er trägt ein blaues Sweatshirt statt Jackett und Jeans statt Anzughose. In dieser Umgebung ist er damit ein Punker.
Sein Großvater ist Vertriebener aus dem
Sudetenland
. "Er hat mich gefragt, ob ich nicht mitkommen möchte und – na ja, warum nicht?", sagt Christoph und schaut ein wenig unsicher zur Seite. Selbstverständlich klingen seine Worte nicht, auch wenn er versucht, sie so klingen zu lassen. "Ich weiß, dass ein Teil meiner Wurzeln dort liegt. Opa hat mir seine Heimat dort gezeigt." Heimat ist für ihn, "wo ich dazugehöre. Das hat nichts unmittelbar mit Herkunft zu tun." Christoph lebt in Dresden, aber seine Heimat ist Berlin, seine Geburtsstadt. "Das kann sich aber auch ändern", sagt er, "natürlich."
Sein Opa, Günter Kunert, wurde in Gradlitz geboren und dort mit 17 Jahren vertrieben. Gradlitz liegt im heutigen Nordtschechien und heißt jetzt Choustníkovo Hradiště. Den Ort mit dem fremden Namen nennt er Heimat – auch heute noch. Seit 1951 lebt Günter Kunert ohne Unterbrechung in Berlin, doch die Hauptstadt ist nur seine "zweite Heimat oder mein Lebensraum".
Er ist ein großer Mann mit leiser, aber eindringlicher Stimme. Er erzählt nicht viel über seine Heimat. Eigentlich nur, dass es seine Heimat ist. Dass es dort schöne Berge gibt, sagt sein Enkel. Auch wenn heute Tag der Heimat ist: Für Günter Kunert ist die Vertreibung viel wichtiger, als das, was er hinter sich lassen musste. Er beschreibt, wie er in einen offenen Kohlewagen gesperrt, und acht Kilometer vor der deutschen Grenze abgesetzt wurde. Von dort jagten sie ihn "heim ins Reich".
Immer wenn er "die Tschechen" oder "die Deutschen" sagt, spricht er die Anführungsstriche mit. Verallgemeinerungen mag er nicht: "Man kann nicht ‚die Tschechen’ sagen. Wir als Heimatvertriebene kritisieren ja gerade die Kollektivschuld. Als wir vertrieben wurden, haben die Einen uns beschimpft und bespuckt. Aber die Anderen haben ihr Weinen unterdrücken müssen." Doch nur ein paar Minuten später beschwört Günter Kunert "Nationaleigenschaften": "Mit jeder Nation sind Eigenschaften verbunden. Die müssen bestehen bleiben."
Wenn sein Enkel Christoph sagt, dass man auch eine neue Heimat haben könnte, dass sich Identitäten vermischen, dann geht Günter Kunert darauf nicht ein. Aber Christoph will sowieso nicht diskutieren. Heimat ist eben da, wo man dazugehört.
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