Marlene Obst, 22, studiert in Leipzig Simultanübersetzung für Arabisch und Französisch. Anfang dieses Jahres ging sie in den Libanon, um in Beirut ein halbes Jahr lang Arabisch zu lernen. Als die ersten Bomben fielen, musste Marlene fliehen. Was sie erlebte, hat sie in einem Tagebuch festgehalten.
Von Marlene Obst
Mittwoch, 12.07.2006
Heute Morgen schickte mir ein libanesischer Freund eine SMS: Die Israelis haben den Libanon angegriffen. Ich fühlte mich überrumpelt. Irgendwie sind wir die Spannungen an der Grenze ja schon gewohnt. Die Hisbollah schießt eine Rakete ab, darauf folgt ein Gegenschlag von Seiten Israels, dann ist wieder Ruhe. Das nehmen die Libanesen relativ gelassen hin.
Als ich dieses Mal aber las, dass die Hisbollah zwei Israelis entführt und die israelische Armee daraufhin begonnen hatte, Dörfer im Südlibanon zu bombardieren, wurde mir der Ernst der Lage klar. Meine Freunde versuchten, mich zu beruhigen, die Kämpfe würden sich nicht bis nach Beirut ausbreiten. Traurig sind sie trotzdem: Schon wieder kehren Krieg und Zerstörung zurück, dabei will nach dem Bürgerkrieg jeder nur seinen Frieden, erzählen sie mir.
Donnerstag, 13.07.2006
Der Flughafen von Beirut ist bombardiert worden. Plötzlich ist nichts mehr normal. Wir werden hektisch und rufen die Botschaft an, die uns nach langer Diskussion endlich auf die Liste setzt, auf der alle Deutschen registriert werden sollen. Wie es weitergeht, wissen wir aber auch danach nicht. Ich habe den Eindruck, die Mitarbeiter der Botschaft nehmen das Ganze nicht ernst.
Nachmittags spürt man deutlich die Unruhe, die sich in der Stadt verbreitet hat. Meine Freundin überlegt, den Libanon Hals über Kopf in Richtung Syrien zu verlassen. Das versuchen viele andere auch. Ich will sie überzeugen, hier zu bleiben – die Straße nach Damaskus wird auch bombardiert, es ist zu gefährlich. In meinem christlichen Studentenwohnheim sind die meisten besorgt und dabei wütend auf beide Seiten: Israel und die Hisbollah.
Abends, in einer Kneipe außerhalb der Stadt, fühle ich mich gar nicht wohl. „Es ist nicht gefährlich hier“, sagt jemand. „Wir haben schon Schlimmeres erlebt.“
Freitag, 14.07.2006
Heute Nacht ist an Schlaf nicht zu denken. Um vier Uhr fangen die israelischen Kampfflugzeuge an, Bomben auf die südlichen Vorstädte Beiruts zu werfen. Erst dachte ich, es sei ein Gewitter. Ich habe Angst und fahre bei jedem Einschlag zusammen, so etwas habe ich noch nie erlebt. Den Kurs an der Uni besuchen nur noch vier Leute, wo der Rest ist, wissen wir nicht. Die Direktorin sagt, die Uni werde vielleicht geschlossen: „
Insha Allah
“, so Gott will, sehen wir uns am Montag.
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Mit meiner Freundin versuche ich den ganzen Tag, die Deutsche Botschaft zu erreichen. Helfen kann uns aber niemand. Man sehe keine Notwendigkeit zur Evakuierung, für Ausländer bestehe keine Gefahr. Vor einer Ausreise über Syrien warnt die Botschaft trotzdem, die Straßen würden beschossen. Wir fühlen uns im Stich gelassen. Auf was warten sie denn? Müssen erst Deutsche sterben, bis etwas unternommen wird?
Um acht Uhr abends fallen Bomben, das erste Mal tagsüber. Ich solle bloß nicht mehr aus dem Haus gehen, sagen libanesische Freunde. Viele von ihnen sind nicht mehr da, die meisten sind zu ihren Eltern gefahren. Aus Beirut kommt jetzt keiner mehr heraus.
Samstag, 15.07.2006
Ich bleibe den ganzen Tag im Haus und versuche, meine Verwandten in Deutschland zu beruhigen. Im Wohnheim sieht jeder mitgenommen aus, ist entsetzt über die unzähligen toten Zivilisten, die der Libanon zu beklagen hat. So viel hätten sie aufbauen müssen nach dem Bürgerkrieg, sagen sie, und jetzt wird alles wieder zerstört. Aber hier im christlichen Viertel Ashafiyé seien wir sicher. Ich weiß es nicht mehr.
Mittags beschießt die israelische Luftwaffe den Hafen, der ist nicht weit weg. Die Deutsche Botschaft unternimmt immer noch nichts, ganz im Gegensatz zu anderen Staaten, wie ich von meinen Kommilitonen erfahre. Kann es sein, dass sich niemand um uns kümmert? Erst spät am Nachmittag ruft die Botschaft an, es fahre morgen früh ein Bus nach Syrien. 50 Deutsche würden mitgenommen, wir sollten schnell ein Fax schicken. Doch das Faxgerät der Botschaft ist überlastet, unsere Nachricht kommt nicht durch.
Wir sind mit den Nerven am Ende, schrecken bei jeder Explosion hoch, weinen ständig. Eine junge Libanesin, die im Bürgerkrieg ihre Eltern verloren hat, lässt ihre Wut über die Hisbollah raus: „Die haben das provoziert“, ruft sie. „Wieso können sie nicht zulassen, dass wir und auch die Israelis in Frieden leben?“
Sonntag, 16.07.2006
Ein Freund holt mich ab und bringt mich zur Schweizer Botschaft. Ein ganzer Haufen Schweizer, Deutsche und Österreicher wartet schon dort. Als wir endlich auf die Liste gesetzt werden und in den Bus einsteigen dürfen, sind wir einfach nur erleichtert. 50 Dollar müssen wir zahlen für ein altersschwaches Gefährt, das mit uns den österreichischen Bussen folgen soll. Die verschwinden allerdings schnell aus unserem Blickfeld.
An der syrischen Grenze müssen wir aussteigen. Stundenlang stehen wir herum, bis wir Pässe und Visa zurückbekommen. Die Österreicher sind längst weg, und als auch noch der türkische Bus an uns vorbeifährt, drücken einige aus, was viele denken: „Offensichtlich schafft das jede Nation besser als wir!“
Jetzt verlangen die syrischen Busfahrer plötzlich 50 Dollar für die Weiterfahrt. Manche von uns können nicht zahlen, wir helfen einander aus. Ich bin froh, dass auch libanesisches Geld akzeptiert wird. Wer nicht zahlen kann, wird an der Grenze zurückgelassen.
In der Türkei angekommen, schlagen wir uns zum nächsten Flughafen durch und bekommen tatsächlich einen Flug nach Berlin. Ich lese noch eine E-Mail meiner Freundin aus Beirut. Sie schreibt, dass die Lage sich weiter verschlechtert hat und sie nicht weiß, wie sie überleben soll. Ich kann mich gar nicht freuen, nach Deutschland zurückzukehren. Als ich meinen Freund wiedersehe, falle ich ihm in die Arme und weine.
Dienstag, 18.07.2006
Seit ein paar Tagen bin ich wieder zu Hause und fühle mich doch fern. Auf meine Prüfungen kann ich mich nicht konzentrieren, immerzu muss ich meine Geschichte erzählen. Ich verfolge die Nachrichten und lese, dass eine Bombe in meinem Viertel eingeschlagen ist, von dem immer alle sagten, das es sicher sei. Niemand ist irgendwo mehr sicher.