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Reisen

„Je mehr Orte du zu Gesicht bekommst, desto größer wird die Welt.“

Tony Wheeler, Backpacker und Gründer des Lonely-Planet-Verlages, spaziert durch die Münchner Innenstadt und spricht über Bedienungsanleitungen zum Reisen und das Problem, nie Zeit zu haben

„Französisch, Italienisch, Spanisch, Polnisch, Tschechisch, Russisch, Schwedisch, Japanisch, auch Hebräisch oder Dänisch, bald Koreanisch und Chinesisch, und ab sofort Deutsch“ - Tony zählt die Sprachen auf, in denen der Lonely Planet publiziert wird. In jedes dieser Länder hat der Brite mindestens einmal seinen Trekkingschuh gesetzt - anfangs als reisender Mechaniker auf dem „Hippie-Trail“ von London nach Sydney, dann als Autor mit einer fixen Idee und heute als erfolgreichster Reisebuchverleger der Welt. Sein erstes kopiertes Büchlein tackerte er noch mit seiner Frau Maureen selbst zusammen und verkaufte es für ein paar Cent an vorbeireisende Traveller. Heute tackern höchstens noch die Druckmaschinen, dafür schreiben über 250 Autoren unter seinem Dach.

Deine Geschichte klingt wie die britische Version des American Dream. Wie ist das für dich?

Es fasziniert mich immer noch. Ich hätte nie gedacht, dass alles so groß werden würde. Andauernd erlebe ich neue Überraschungen. Es ist seltsam, überall auf der Welt deine eigenen Bücher im Laden zu sehen. Aber noch besser ist es, wenn die Leute die Bücher benutzen, am witzigsten ist das übrigens in Indien. Aber am schönsten ist es, wenn junge Leute zum ersten Mal backpacken gehen und du weißt, dass du ihren Trip interessanter oder überhaupt möglich gemacht hast.

Was hat sich in den Jahren weiterentwickelt, was hat sich verändert?

In einiger Hinsicht haben sich die Bücher überhaupt nicht verändert. Wir haben immer noch die gleichen Standpunkte. Heute sind die Bücher um einiges ausgeklügelter und viel besser geplant. Die Anleitung, um ein Buch zu schreiben, ist mittlerweile länger als das eigentliche Buch. Das ist die Veränderung. Der Spirit ist der Gleiche geblieben: Ich liebe es immer noch zu reisen, und das kommt in den Büchern auch hoffentlich rüber. Unsere Autoren haben alle sehr ähnliche Ansichten und unsere Leser wollen mehr über die Orte wissen, an die sie reisen. Das ist perfekt: Wir wollen Informationen verbreiten und sie wollen Informationen bekommen.

Wo ist da der Unterschied zu anderen Reiseführern?

Natürlich gibt es Ähnlichkeiten. Aber zum einen denken wir anders, zum anderen schreiben wir auch über Orte, für die kein anderer Verlag einen Reiseführer hat. Das ist für mich das Wichtigste! Wir haben zum Beispiel einen Reiseführer über die Mongolei, über den Iran, Äthiopien oder Albanien – das haben die anderen nicht. Die ungewöhnlichen Orte interessieren mich am meisten.

Kennst du eure Autoren alle persönlich?

Nein, nein. Manchmal stellt sich der ein oder andere mit den Worten vor: „Ich schreibe für dich.“ Und ich sage: „Oh, schön dich kennen zu lernen.“ Ich kann ja auch nicht alle Bücher lesen. In einige habe ich noch nicht einmal einen Blick rein geworfen. Und normalerweise liest man ja auch erst einen Reiseführer, wenn man ihn tatsächlich benutzt. Das ist der einzige Weg herauszufinden, ob das Buch gut ist, ob es funktioniert. Morgen werde ich zum Beispiel herausfinden, wie gut der Lonely Planet über Albanien ist.

Der sportliche Weltenbummler lacht herzhaft über seinen eigenen, trockenen Humor. 24 Stunden später wird er bereits in einem Flugzeug nach Albanien sitzen. Es ist für ihn nicht ungewöhnlich, allein durch Landstriche zu ziehen, um die die meisten von uns einen großen Bogen machen würden. Zu Fuß oder per Anhalter ist er indes nur noch selten unterwegs – nur wenn es sich nicht vermeiden lässt - und trotzdem würde er nie seinen Rucksack gegen einen Koffer eintauschen. Er genießt es, auf die alten Tage Dinge zu tun, die ihm keiner der Rucksackreisenden so schnell nach- und noch weniger vormachen kann. Kurz bevor er nach Deutschland kam, war der Reisefanatiker im Irak.

Ich hab in deinem Blog deine Geschichten über den Irak gelesen und Bilder von dir und amerikanischen Soldaten gesehen.

Ja, das war echt witzig. Ich war aber nur im Norden, dort ist es okay. Ich wollte unbedingt ein Foto von diesem Schild machen, also habe ich die Soldaten einfach gefragt. Und dann wollten sie plötzlich mit auf das Bild. Warum nicht?

Der Irak ist nicht unbedingt das Top-Reiseziel.

Stimmt, nicht besonders. Ich habe auch keine anderen Touristen mitgebracht. Ich war für einen Vortrag auf einer Tourismuskonferenz in Washington D.C. eingeladen, und dachte: Was gibt es Besseres, als direkt von der „Achse des Bösen“ zu kommen. Also ging ich vorher in den Irak. Das war ziemlich cool.

Während er sich den Weg durch die vollgestopfte Einkaufszone zwischen Marienplatz und Münchner Stachus bahnt, kichert Tony wie ein Schuljunge. Immer wieder werden ihm Einkaufstaschen und Ellbogen entgegengeschleudert und er muss ausweichen. Doch Tony nimmt es gelassen, bemerkt es kaum, denn jetzt ist er im Redefluss. Nach seinem Irak-Trip stoppte er für eine Zwischenlandung in München, wenn auch nur für eine halbe Stunde. Tony hat viele Freunde hier in Deutschland, aber die trifft er meist in einem anderen Winkel der Welt – oft an außergewöhnlichen Orten abseits der ausgetretenen Backpackerrouten. Ein Phänomen, das Lonely-Planet-Eingeweihte als „Secret Spot“ aus fast jedem der über 600 Titel kennen.

Die Berühmtheit des Lonely Planet ist auch sein Problem. Du willst zu einem so genannten „Secret Spot“, und was passiert?

Jeder war schon dort. Ja, ich weiß das. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass man nie zu enthusiastisch sein darf. Du darfst niemals sagen: Das ist das beste Restaurant, denn dann rennt jeder dort hin. Du musst also lernen, Maß zu halten und vorsichtig sein, was du empfiehlst. Das spielt natürlich kaum eine Rolle für München, London, New York oder Sydney, denn dort gibt es jede Menge anderer Inputs. Aber beispielsweise in Vietnam, Kambodscha oder in der Mongolei bist du die einzige Informationsquelle. Wenn du da schreibst: Das ist das beste Restaurant in der Stadt, dann strömen alle nur noch an diesen einen Ort.

Kambodscha ist ein gutes Beispiel. Dort gibt es ja auch jede Menge billige Kopien des Lonely Planets.

Oh, das ist ein großes Problem für uns. Die machen sie in Vietnam, als Raubkopien. Das ist ein wirklich großes Problem. Es ist verdammt billig, die Bücher zu kopieren. Man muss nichts überprüfen, man muss die Karte nicht zeichnen, alles, was man tun muss ist: es kopieren. Das ist ein großes Problem.

Was macht ihr dagegen?

Was kann man dagegen tun? Nicht viel.

In Südostasien stellt das für manche Leute auch den Lebensunterhalt dar.

Die Bücher zu stehlen? Genau das ist es nämlich. Nein, es ist ein Problem.

Und was ist mit den „Recommended by Lonely Planet“-Schildern an den Haustüren?

Das ist in Ordnung. Aber wenn sie die Bücher kopieren, macht mich das nicht gerade glücklich. Es ist verdammt schwierig, etwas dagegen zu unternehmen.

Statt Grübchen vom Lachen graben sich nun tiefe Sorgenfalten in Tonys Gesicht. Seine Antworten werden kürzer, seine Ausweichmanöver ruckartiger, die entgegenkommenden Einkäufer zu Hindernissen. Auf dem Marienplatz findet ein kleines Volksfest satt. Blauweiße Papier-Fähnchen werden verteilt, Menschen drängen sich vor einer Bühne unterhalb des Glockenturms, Japaner knipsen um die Wette. Auch der meist in Sydney lebende Tony wird absorbiert von dem ungewöhnlichen Treiben: „Das klingt ganz schön bayrisch hier.“ Was so bayrisch klingt, ist ein jüdischer Männerchor: In ganz Deutschland wird an diesem Tag der Israel-Tag gefeiert. „Wow“, findet Tony erstaunt, und blickt aufmerksam um sich, als wolle er jede noch so kleine Regung in seinem Gedächtnis festhalten. „Happy Birthday, Israel!“

Gibt es einen Ort, an dem du noch nicht warst und den du unbedingt noch entdecken willst?

Oh Mann, da gibt es ziemlich viele. Je mehr Orte du zu Gesicht bekommst, umso größer wird die Welt. Ich will zum Beispiel nach Ruanda und ich war bisher nicht in der Mongolei – das ist für nächstes Jahr geplant. Im Jemen war ich auch noch nicht, und das muss ein sehr interessantes Land sein. Es gibt so viele Trips, die ich noch nicht gemacht habe. Ich werde wohl nicht lange genug leben, um überall hinzukommen, wo ich gerne hin würde.

Hast du einen aktuellen Lieblingsfleck auf der Welt?

Das nicht, aber es gibt Orte, an die ich gerne zurück möchte. Das Ding ist: Wenn du Reiseführer schreibst, hetzt du immer nur hin und her und wieder zurück. Du hast nie genug Zeit, um den Ort genießen zu können. Wir haben in den Achtzigern ein Jahr in San Francisco verbracht und wir waren in den Neunzigern ein Jahr in Paris. So etwas würde ich gerne häufiger machen. Wenn es nicht ein ganzes Jahr geht, dann vielleicht nur drei Monate. Vielleicht New York, oder ich könnte auch eine Zeit lang hier nach München kommen, das wäre ein toller Spaß – oder Berlin.

Warum machst du es dann nicht einfach? Jetzt hättest du doch Zeit dazu.

Selbst wenn ich durch die Gegend hetze, genieße ich es. Ich denke nur manchmal, dass es schön wäre, die Dinge mit weniger Eile zu tun. Und ich reise jetzt auch tatsächlich mehr als noch vor einiger Zeit. Ich kann alles liegen lassen und das Geschäft läuft weiter. Das ist toll. Langeweile kenne ich nicht, es gibt immer irgendeinen Ort, wo ich unbedingt hin will.

Hattest du denn nie den Gedanken, dich zur Ruhe zu setzen?

Ich habe darüber nachgedacht, habe es aber einfach noch nicht gemacht. Eines Tages wird es sicherlich dazu kommen.

Vermutlich wird dieser Tag noch lange auf sich warten lassen. Tony schmunzelt über sich selbst: Ein so alter Knabe und noch immer auf der Suche. Es ist die Lust auf neue Kulturen, Menschen, Herausforderungen, Leben, Natur. Einige Rucksackreisende sprechen vom Lonely Planet als „Bibel“. Demnach müsste Tony der Gott oder zumindest ein Prophet der Backpacker sein. Als der gelernte Mechaniker das hört, muss er sich beherrschen, nicht laut loszulachen:

Das ist wirklich weit hergeholt. Der Lonely Planet ist keine Bibel, sondern einfach nur ein Buch. Die Leute folgen ihm vielleicht, als ob er eine Bibel wäre. Sie übernachten alle an den gleichen Orten und die werden dann zu bekannt. Das ist alles. Sie sollten das Buch nicht als Bedienungsanleitung verstehen, in der es heißt: Wenn du dies oder das falsch machst, dann wird dein Computer in die Luft fliegen. Es sind lediglich Empfehlungen. Der Lonely Planet soll benutzt werden und Spaß machen, that’s it .

Trotzdem sind die Autoren im Grunde sehr mächtig.

Wenn wir wieder zurückgehen an Orte wie Kambodscha oder Vietnam, dann haben wir mit dem Lonely Planet tatsächlich viel Einfluss. An solchen Orten müssen unsere Autoren natürlich sehr behutsam damit umgehen. Andererseits ist dies einer der Vorteile: Du kannst ständig deine eigene Meinung einfließen lassen. Jede Ausgabe ist immer auch eine eigene Perspektive.

Wie kann denn so etwas überprüft werden?

Zwei Dinge: Die Leute, die unser Buch benutzen, geben uns Feedback, was falsch oder richtig ist, oder was man besser machen sollte. Und immer, wenn ich auf Reisen bin, dann mache ich mir Notizen und schaue, wie die Bücher funktionieren, und überprüfe alles.

Die Vorstellung, man trifft dich irgendwo auf der Terrasse einer vietnamesischen Bambushütte bei einem Bier, ist schon seltsam. Verheimlichst du oft, wer du bist?

Ach Quatsch. Wenn es jemand herausfindet, mache ich kein Geheimnis daraus oder bestreite, wer ich bin. Aber ich gehe auch nicht auf die Straße und hänge mir ein Schild um den Hals.

Wie reagieren die Leute, wenn sie mitkriegen, wer du bist?

Normalerweise sind die Leute ziemlich locker. Wenn überhaupt, dann habe ich nur einen sehr geringen Bekanntheitsgrad und werde nicht wie ein Fernsehstar auf der Straße belagert. Wenn Leute herausfinden, wer ich bin und was ich tue, finden sie es toll. Sie lesen die Bücher, identifizieren sich mit mir und wir sprechen über die gleichen Dinge. Ach, übrigens: Ich suche einen Gurt für meinen Rucksack.

Bescheidenheit ist eine der offensichtlichsten Tugenden des Abenteurers, Geduld eine weitere, wie sich bald herausstellen wird. Vielleicht hat Tony plötzlich keine Lust mehr, über sich zu erzählen, vielleicht war dieser letzte Satz aber auch eine Einladung, ein kleines Stück an seinem Leben teilzuhaben. Wenige Sekunden später durchkämmt Tony das Erdgeschoss eines vierstöckigen Outdoor-Geschäftes in einer Seitenstraße der Münchner City. Etage eins: erfolglos, dann zwei, drei und vier. Im Treppenaufgang bläst er stoßweise die Luft aus seinem Mund. „Kannst du eigentlich Deutsch, Tony?“ - „Ja, ein bisschen verstehen kann ich, ich habe mal einen Kurs gemacht.“ In jedem Stockwerk scannt er aufmerksam die Regale. Etwas resigniert findet er im obersten Geschoss jede Menge überteuerter Frauenjacken, aber keinen Gurt. Spätestens jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, einen Kundenbetreuer zu fragen, doch Tonys Lippen bleiben verschlossen. Er findet, es wäre eine bessere Idee, sich nach einem anderen Laden umzusehen, fügt aber hinzu, dass es den Gurt wahrscheinlich auch hier irgendwo geben wird.

Vielleicht steckt gerade in diesem Detail das Besondere an dem unscheinbaren Menschen hinter einem Großimperium: Wenn jeder andere es sich leicht machen würde, nimmt Tony sich die Zeit zur Suche. Und findet dabei oft mehr als nur einen Gurt. Geduldig trottet Tony wieder die vier Treppen hinunter - unten angekommen, grinst er schelmisch: „Was kann ich noch erzählen?“


 
 



 

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