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Menschenrechte

„Wenn Menschen sich für Menschen einsetzen, bleibt das nicht unbemerkt“

Heute kommen 600 Menschenrechtler in Berlin zur Jahrestagung von „Amnesty International Deutschland“ zusammen. Die Vorsitzende Anja Mihr berichtet im Zuender-Interview vom Kampf um Gerechtigkeit

Anja Mihr geht durch die Hallen einer ehemaligen Textilfabrik, die Schüler für einen Tag in eine Zukunftswerkstatt verwandelt haben. Jugendliche finden hier ein Forum für brisante Themen der Gegenwart, die ihnen am Herzen liegen. Heute sprechen sie über den Irak-Krieg, Iran und Guantanamo. Auf den nackten Betonwänden kleben bekannte Zitate: „Wenn wir im Dschungel agieren, müssen wir uns nach den Gesetzen des Dschungels richten.“

Hat sich die Haltung der Deutschen zur Folter der letzten Jahren verändert?

Anfang des Jahres sagte Angela Merkel , sie sei überzeugt, dass die Mehrheit der Bundesbürger Folter im Kampf gegen der Terrorismus ablehnen. Ich bin mir da nicht so sicher. Viele sagen: „Ja, so ein wenig Folter wäre vielleicht okay.“ Doch es gibt nicht „ein wenig“ Folter. Der Rechtsstaat ist ausgehebelt, sobald er foltert.

Viele Menschen sagen: Wie würden Sie sich verhalten, wenn eine Atombombe in Berlin versteckt wäre und nur die Folter eines Verdächtigen die Explosion verhindern könnte?.

Wir von ai haben eine klare Position: "Folter unter keinen Umständen - ohne Ausnahme!"

Ärgert es Sie, wenn jemand weiß, wie viele Menschen in Guantanamo einsitzen, aber keine Ahnung haben, was im deutschen Abschiebeknast passiert?

Das ist schon fast schizophren. Wenn Sie heute etwas über Abschiebehaft lesen, bleibt in den meisten Fällen nur ein Bild von Ausländern im Kopf, die hier sind, und plötzlich nicht mehr hier sind. Da könnten die Medien besser werden.

Die Zusammenhänge müssten vermittelt werden: Wie Familien auseinander gerissen werden, wie gewissenlos der Staat oft agiert. Im Fall Kosovo hat die Bundesregierung Menschen abgeschoben mit der Begründung, ihr Wohl sei auch dort gesichert. In einigen Fällen kam nach der Abschiebung in ihr Land zu Misshandlung und Tod der Asylbewerber. Die Bundesregierung muss hier Verantwortung übernehmen. Sie muss vor Ort aufklären und sicherstellen, dass so etwas nicht wieder geschieht.

Wenn wir uns über Guantanamo unterhalten, ist das Thema klar: 510 Inhaftierte. Folter. Kein rechtsstaatlicher Prozess. Worum geht es, wenn wir von Menschenrechtsverletzungen in Deutschland sprechen?

Auf internationaler Ebene stehen Zahlen im Vordergrund Wenn sie in Deutschland nach Zahlen fragen, bekommen Sie Themen als Antwort: Polizeigewalt, Abschiebung, Geständnisse unter Folter und häusliche Gewalt gegen Frauen. Sie werden keine konkreten Zahlen bekommen, sondern lediglich Beispiele. Wir haben zum Beispiel etwa ein Dutzend Fälle von Polizeimisshandlung seit 1998 recherchiert und begleiten die Opfer bis zu den Gerichtsverfahren. Doch absolute Zahlen sind rar. Von den meisten Fällen häuslicher Gewalt weiß niemand außer den Betroffenen selbst.

In der Armutsdebatte unterscheidet man mittlerweile zwischen absoluter Armut und relativer Armut. Brauchen wir für Länder wie Deutschland auch einen relativen Begriff der Menschenrechtsverletzung?

Je weiter wir den Begriff fassen, desto höher ist die Gefahr, ihn zu verwässern. Ist dann selbst Liebeskummer gleich Folter, weil es unerträglich weh tut? Das würde den wirklich schweren Fällen ungerecht. Doch das Thema Armut selbst ist eine Herausforderung denn wenn Armut die Lebenserwartung deutlich senkt oder die Menschen ohne Ausbildung aufwachsen müssen, dann sind das Indikatoren für Menschenrechtsverletzungen.

In der sächsischen Verfassung ist das Recht auf eine angemessene Arbeit festgeschrieben. Verletzt Sachsen mit seinen Arbeitslosen die Menschenrechte ?

Das Recht auf Arbeit ist Teil der allgemeinen Menschenrechtserklärungen und bedeutet: Jeder hat das Recht, seinen Berufswunsch frei zu äußern. Es gibt Regime, die verwehren bestimmten Menschen, zum Beispiel Frauen, bestimmte Arbeiten. Das sind Menschenrechtsverletzungen. Zur Zeit des Kommunismus war dieses Recht in Sachsen nicht ausreichend gegeben. Heute schon.

Wenn Hartz-IV Empfänger heute umlernen müssen, weil es die Arbeit, die sie wollen, schlicht nicht mehr gibt – ist das keine Verletzung des Rechts auf eine angemessene Arbeit?

Ich muss die Chance vom Staat bekommen, meinen Berufswunsch zu erfüllen. Wenn der Markt mir die Möglichkeit später dennoch nicht gewährt, dann halte ich es für problematisch, von einer Menschenrechtsverletzung zu sprechen.

Doch wenn Sie sagen: jeder hat das Recht auf Arbeit. Was ist mit den Tausenden – zum Beispiel älteren Industriearbeitern – die heute ihren Arbeitsplatz verlieren?

Ich denke nicht, dass der Staat jedem Menschen einen Arbeitsplatz garantieren kann. Menschen, die wegen ihres Alters entlassen wurden können klagen, denn in diesem Fall werden sie aufgrund ihres Alters diskriminiert und das kann rechtsstaatlich geahndet werden. Viele solcher Klagen bekamen bereits Recht, doch es ist leider sehr schwer zu beweisen.

Die Schüler präsentieren die ersten Ergebnisse ihrer Workshops: Eine nüchterne Bestandsaufnahme. Nachdenklich betrachtet Anja Mihr ein Bild, das die Schüler von unserer Welt gezeichnet haben: die Welt als Dschungel; das Recht des Stärkeren regiert, während die Menschenrechte zum Mars fliegen.

Woran denken Sie, wenn Sie unsere Welt so dargestellt sehen?

Ich denke daran, dass es schlechte Tage gibt, an denen ich sehe, wie viel noch zu tun ist. Und ich denke an die guten Tage: Dann sehe ich, wie viel wir bereits bewegt haben. Wir haben heute ein Bewusstsein für Menschenrechte, das es nie zuvor gab – und das weltweit! Selbst in die entlegensten Gebiete Afrikas dringen wir heute dank Radio und Straßentheater vor.

Ein Zitat, das sich die Schüler für diesen Tag ausgesucht haben, stammt von Benjamin Franklin, einem der Gründerväter Amerikas. Bereits vor 240 Jahren erkannte dieser: „Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“

Nicht nur die USA, auch Deutschland hat seit dem 11. September verschiedene Sicherheitspakete verabschiedet. Ist Deutschland dadurch heute sicherer?

Durch den Zugang zu privaten Daten ist die Kontrolle heute höher, aber ob dadurch Sicherheit gewonnen wurde – den Eindruck habe ich nicht.

Beeinflusst es Sie, dass Sie während ihrer Arbeit mit Häftlingen unter Umständen abgehört werden?

Nein. Viele Aktivisten gehen heute davon aus, dass sie abgehört werden. Aber davon dürfen wir uns nicht von unserer Arbeit abhalten lassen.

Wo würden Sie die Grenze ziehen: Hier und nicht weiter im Kampf gegen den Terrorismus!

Es begann bei der Rasterfahndung, die bereits bedeutete: Jeder Muslim ist möglicherweise ein Terrorist! Diese Kollektivierung war fatal. Sie hat zu einer nachhaltigen Hysterisierung beigetragen, die vollkommen kontraproduktiv ist.

Was kann denn der Einzelne heute tun?

Das einfache Mittel, Protestbriefe zu verschicken, wird ständig unterschätzt. Briefe wirken.

Was sagen Sie denen, die 100 Prozent gegeben haben und doch nichts tun konnten?

Okay, jetzt in diesem einen Fall hat es nichts gebracht. Aber ihr habt sensibilisiert. Nur wenn wir weiter machen, schützt das in Zukunft andere. Das ist etwas, was ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit übrigens belegen konnte. Aktionen von amnesty fördern das Umdenken, auch wenn wir nicht jeden Einzelfall gewinnen können. Wenn Menschen sich für Menschen einsetzen, bleibt das nicht unbemerkt.

www.amnesty.de


 
 



 

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