Juden
Nicht koscher: Berlin Herrmannplatz
Wie leben jüdische Jugendliche in Deutschland? Beobachtungen aus Kreuzberg, Heimat der Alt-68er, Hiphop-Szene und Dönerbuden
Crisse Küttler
Nathan Marcus wartet mit seinem Vater an der Ampel. Heute ist ein unspektakulärer sonniger Donnerstag im Oktober. Zumindest für die meisten Berliner. Für Nathan ist es aber ein ganz besonderer Tag: Jom Kippur, der Tag der Sühne. Es ist der höchste Feiertag, den das Judentum kennt. Nathan ist extra aus Wien angereist, um ihn mit seinem Vater in der Synagoge am Fraenkelufer zu begehen. Weil ihm seine Religion an diesem Tag nur eine begrenzte Anzahl an Schritten erlaubt, hat er am Herrmannplatz ein Zimmer genommen.
Während die anderen beim Verlassen der Synagoge ihre Kippot abnehmen, haben die beiden mit ihrer jüdischen Kopfbedeckung den Heimweg quer durch Kreuzberg angetreten. Hinter ihnen an der Ampel lässt ein tiefer gelegter Golf GTI den Motor aufheulen. Aus dem Schiebedach schaut ein Goldkettenträger. Als die Ampel auf gelb umspringt, brüllt er Nathan an: "Hurensohn". Der Fahrer drückt grinsend auf das Gaspedal und sucht das Weite. Hinter dem Rücken seines Vaters erhebt sich ein Mittelfinger als Antwort.
"Das ist schon das zweite Mal heute", sagt Nathans Vater leicht resigniert. Wenige Straßenzüge zuvor wurde ihnen "Heil Hitler" hinterher gerufen. Und das mitten im alternativen Kreuzberg. Liegt es daran, dass in diesem Stadtteil viele Moslems leben? Kaum. Der gegelte Goldkettenträger sieht nicht so aus, als hätte er jemals eine Moschee von innen gesehen. Außerdem passieren solche Zwischenfälle auch in anderen Stadtteilen mit Deutschen. Trotzdem ist Kreuzberg unbeliebter unter den Juden als etwa Charlottenburg. "Die Synagoge wird besucht, weil sie den Krieg überstanden hat, nicht weil die Gemeindemitglieder hier leben", weiß Nathan.
Die meisten Juden setzen ihre Kippa immer direkt nach dem Besuch einer Synagoge ab. "Weil sie nicht in der Öffentlichkeit als Juden erkannt werden wollen", sagt Nathan. "Allerdings sind die meisten Juden auch nicht gesetzestreu." Manch einer geht im Anschluss an den Gottesdienst auch Döner essen. Janin Zingelmann bezeichnet diese "nicht gesetzestreuen Juden" als liberal. Janin wohnt im Herzen Kreuzbergs, in der Oranienstraße, und studiert Religionswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin. Er kennt sich bestens aus mit dem jüdischen Leben in Deutschland.
Im 18. Jahrhundert entwickelte sich eine jüdische Bewegung, die ihre Anhänger aus den Ghettos holen und in die Gesellschaft eingliedern wollte. Seitdem unterscheiden sich die Synagogen nach ihrer Anhängerschaft. So beten in einer liberalen Synagoge Männer und Frauen zusammen, während sie bei den Konservativen räumlich und bei den Orthodoxen zusätzlich durch einen Vorhang getrennt werden. Inzwischen gibt noch es eine vierte Gruppierung: Juden, die vor dem Antisemitismus in Russland geflohen sind, sich aber kaum religiöse Traditionen bewahrt haben.
"Ich habe noch nie Juden in Kreuzberg oder Neukölln gesehen" gesteht Janin. Dementsprechend hat sie auch noch nie von Übergriffen in ihrem Stadtteil gehört. Doch sie weiß, dass sich auch jüdische Jugendliche in ihrer Umgebung in Kneipen und Kellern treffen, um über Gott und die Welt zu schnacken, wie es andere im gleichen Alter auch tun. Einer von ihnen ist David. "Ich habe die Bibel genauso wenig gelesen wie die meisten anderen bei mir an der Schule", sagt er. "Ich kenn mich Null aus mit meiner Religion, genauso wie meine Klassenkameraden, die einen christlichen oder islamischen Hintergrund haben." Trotzdem hat David vermieden, seine Konfession öffentlich zu machen. "Ich habe schon die Befürchtung, abgelehnt zu werden, nur weil ich Jude bin", gibt er zu.
David war vor ein paar Jahren war noch aktiver, inzwischen geht er nur noch zu den wichtigen Feiertagen in die Synagoge. Dabei kann er schon verstehen, dass andere Leute wie etwa Nathan ihren Glauben sichtbar nach außen tragen: "Oft habe ich das Gefühl gehabt, dass die Menschen um mich herum mit Unbehagen auf meine religiöse Zugehörigkeit reagieren. Selbst in Kreuzberg. Dann habe ich mich immer ungerecht behandelt gefühlt und mir gedacht: Anstatt es zu verheimlichen, sollte ich lieber den Mut haben, stolz meine Kippa zu tragen." David hat Menschen kennen gelernt, die sich in ihrem jüdischen Outfit sehr cool finden. "Aber auf der anderen Seite möchte ich auch, dass meine Freunde in mir einen Skater sehen und nichts anderes."