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AIDS

"Wir waren schon mal weiter"

"Wenn Vertrauen und Liebe ins Spiel kommt, setzt die Prävention aus." Jörg Korell, Leiter der Hamburger Aidshilfe, spricht im Zuender-Interview über Oralsex, Leichtsinn und das Risiko Beziehung

Das Robert Koch Institut (RKI), das die Statistiken für Deutschland erhebt, nennt 1164 Menschen, die sich im ersten Halbjahr 2005 mit HIV infiziert haben. Was fällt Ihnen zu dieser Zahl ein?

Sie gibt Anlass zur Sorge. Obwohl sie mich nicht überrascht. Die vermehrten Neuinfektionen konnten wir in den Beratungsstellen bereits seit einiger Zeit feststellen. Es ist eine Tendenz, die sich bereits seit längerem von Amerika her auf uns zu bewegte und nun bei uns angekommen ist.

Die Gelder für Werbung zur AIDS-Prävention sind gesunken. Aber bringen Werbeslogans wie "Gib AIDS keine Chance" überhaupt noch etwas? Wird die Werbung noch wahrgenommen?

Werbung alleine kann es nicht sein. Das ist uns als Beratern sehr bewusst. Prävention findet im Gespräch statt. Wenn ich keine Person des Vertrauens habe, bleibe ich mit meinen Sorgen allein und werde schwer eine Präventionshaltung entwickeln können. Damit jemand seinen eigenen Präventionsweg findet und verinnerlicht, braucht er Ansprechpartner, die ihm gute Informationen geben – im Gespräch.

Nützt also die Werbung nichts?

Die großen Plakatkampagnen sind eher Hintergrundmusik, die jedoch nicht zu unterschätzen ist. Jeder erinnert sich an Fernsehspots wie "Rita, was kosten die Kondome?". Ob man nun jeden Spot mag, sei jedem selbst überlassen, aber man kann nachweisen, dass diese Werbung Erfolg hat.

Wie ist der Wissensstand bei jungen Menschen über sexuell übertragbare Krankheiten?

Durchwachsen. Die schlimmsten Wissenslücken gibt es bei den Übertragungswegen von HIV. Bei dem Thema spielen alle sexuell übertragbaren Krankheiten eine Rolle – nicht nur HIV. Hepatitis zum Beispiel wurde in der Debatte vergessen. Manche der Hepatitisinfektionen sind von der Dramatik her für den persönlichen Betroffenen durchaus mit HIV zu vergleichen.

Wie ist es nun mit den Übertragungswegen? Wie hoch sind beispielsweise die Gefahren beim Oralsex?

Die Aussage der AIDS-Hilfe war nie: "Habt keinen Oralsex" sondern "Raus, bevor's kommt!". Blasen selbst ist nicht gefährlich. Zumindest was die HIV-Übertragung angeht. Andere sexuell übertragbare Krankheiten können beim Blasen jedoch selbstverständlich weitergegeben werden. Der sogenannte Lusttropfen ist aber bezüglich HIV nicht gefährlich. Sobald man jedoch in den Mund ejakuliert, wird es gefährlich – beim Schlucken erst recht. In die Augen oder auf andere Schleimhäute sollte Sperma auch nicht geraten, da das Virus auch auf diesem Weg in den Körper gelangen kann. Das Lecken einer Frau ist ebenfalls ungefährlich. Es sind zwar HI-Viren in der Scheidenflüssigkeit vorhanden, aber - wie beim "Lusttropfen" – lange nicht soviel wie im Blut. Hat die Frau aber ihre Tage, ist die Ansteckungsgefahr enorm. Sobald man im Mund, am Glied oder an oder in der Scheide eine Verletzung hat - und sei sie noch so klein, ist ebenfalls höchste Vorsicht geboten.

Wenn man von HIV in den Nachrichten hört, geht es eigentlich immer um Schwule, über Menschen in Afrika, Osteuropa oder aus dem fernen Osten. Wie stark nehmen Heterosexuelle aus bürgerlichem Haus HIV als Gefahr wahr?

Kaum. In der Medienöffentlichkeit spielt es fast nie eine Rolle. Diejenigen, die allerdings vorsensibilisiert sind, also beispielsweise in einer AIDS-Präventionsveranstaltung waren oder einen tragischen Film über HIV gesehen haben, rufen oft am nächsten Tag bei uns auf dem Beratungstelefon an.

Wie sieht es im Alltag aus?

Selbst in besseren Elternhäusern wird meist nicht die HIV-Frage diskutiert. Man redet über Empfängnisverhütung, aber nicht über AIDS. Da waren wir schon mal weiter. Es gab Jahre, da hatte man immer einen Pariser in der Tasche stecken. Da müssen wir wieder hinkommen. Auch in dem Augenblick, wo ich jemandem kennen lerne und es heißt: Gehen wir zu dir oder zu mir? Diese Frage wird oft nicht gleich mit HIV verbunden. Das ist das Drama der Prävention. Der Umgang mit Verhütung muss Routine sein.

Wie groß ist die Scheu vor einem AIDS-Test?

Der AIDS-Test hat eine große psychosoziale Dimension. Das wird alles nicht mal eben so gemacht. Dennoch gab es früher, als die medizinischen Therapien weitaus schlechter waren, eine wesentlich kritischere Haltung gegenüber dem Test. Im Zweifelsfall sage ich immer: Hingehen und einen Test machen. Denn heutzutage ist es gut, frühzeitig zu wissen, ob ich HIV-positiv bin, um rechtzeitig mit einer erfolgreichen Therapie beginnen zu können.

Was meinen Sie mit der psychosozialen Dimension?

Der Test sollte niemals ohne eine persönliche Auseinandersetzung und eine Beratung gemacht werden. Man muss darüber nachdenken, was passiert. Was mache ich, wenn der Test positiv ausfällt? Es wäre fatal, eine Woche hinzulaufen und den Test zu machen, sich aber ansonsten völlig unsafe zu verhalten. Der Test reagiert ja erst zwölf Wochen nach einer möglichen Ansteckung. Wenn ich also zwölf Wochen rumvögele, aber sage, ich mache doch jede Woche den Test, wird schon gut gehen, bleibt ein extremes Risiko.

Wo kann man einen AIDS-Test machen?

Jeder Arzt kann den Test machen, wogegen aber einiges spricht. Die Ärzte sind oft nicht in der AIDS-Beratung geschult, der Test kostet Geld und das Ergebnis wird aktenkundig, was Konsequenzen haben kann. Besser ist der Test beim Gesundheitsamt, wo das Ergebnis anonym bleibt.

Und dann?

Muss man meist eine Woche warten. Der Termin wird vorher ausgemacht. Witzig ist diese Zeit natürlich nicht. Jeder, den ich kenne und der den Test gemacht hat, sagt: Ab dem Moment, wo mir das Blut abgenommen wurde, bis ich es erfahren habe, bin ich durch die Hölle gegangen.

Welche Gruppen infizieren sich in Deutschland am ehesten?

70 Prozent Schwule, 20 Prozent Heterosexuelle, 9 Prozent Drogensüchtige, die spritzen. Bei einem Prozent überträgt sich HIV während der Schwangerschaft von einer HIV-positiven Mutter auf das Ungeborene. Man kann aber heute medizinisch dafür sorgen, dass eine Übertragung auf das Kind nicht stattfindet.

Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sagt, man könne nicht von einer bewussten Leichtsinnigkeit Jugendlicher sprechen, da die Mehrheit regelmäßig ein Kondom benutzen würde. Kann man das wirklich nicht?

Von großer Leichtsinnigkeit würde ich auch nicht reden. Dennoch sollte gesagt werden, dass Liebe der größte Risikofaktor ist. Die allermeisten HIV-Übertragungen passieren im privaten Umfeld. Es heißt ja immer, die Jugendlichen ficken wie blöd, sei es in Diskotheken oder in den Nachtclubs. Aber da passieren weniger HIV-Übertragungen als in der eigenen Sphäre.

Vertrauen in einer Partnerschaft ist gefährlich?

In dem Augenblick, wo Vertrauen oder Liebe eine Rolle spielt, setzt die Prävention aus. Man sagt sich: Wir kennen uns doch schon so gut, der ist doch so nett, ich würde es ihm doch ansehen und der würde mich doch nicht belügen. Gerade da, wo die Grundsteine für längere Partnerschaften gelegt werden, fehlen oft die Präventionsgedanken. Nicht so sehr beim One-Night-Stand. Man kann das nachvollziehen. Es geht eben in einer Partnerschaft um Dinge wie Vertrauen und Loslassen. Und das ist leider oft nicht die Situation, um einen Präventionscheck zu bitten. Man muss das Gespräch aber beizeiten führen.

Wie wirkt sich ein positives Ergebnis auf den Alltag aus? Bricht alles gleich zusammen?

Natürlich bricht alles zusammen. Es ist ein großer Schlag, weil kaum ein Mensch wirklich Bescheid weiß, was das Ergebnis wirklich aussagt. Es geht dann darum, sein Leben neu zu ordnen. Nicht, um morgen zu sterben, sondern, um Dinge zu organisieren, ein stabiles Netz aufzubauen. Es geht um Überlegungen wie: Finde ich andere Menschen, von deren Erfahrung ich vielleicht profitieren kann? Was ist mit meiner Familie, meinen Freunden, meiner Partnerschaft? Lassen die mich jetzt fallen? Es gab hier bei uns in der Hamburger AIDS-Hilfe erst diese Woche zwei Fälle. In einem hat sich die Familie vom dem Infizierten isoliert. In dem anderen Fall, ist sie zusammengerückt, was ich nicht erwartet hätte. Man kann das nicht generalisieren.

Können HIV-Infizierte Sex mit Nicht-Infizierten haben?

Wie alle anderen Leute auch. Nur mit einer entscheidenden Einschränkung. In so einer Lebenskrise tritt Sex erst mal in den Hintergrund. Das bleibt aber nicht immer so. Es gibt glückliche gemischte Partnerschaften: Alles ist möglich und alles wird gelebt.

Wie steht es mit dem gesellschaftlichen Leben HIV-Positiver?

In den letzten Jahren hat sich da was verändert, da die Medikation vielen Positiven eine stabilere Gesundheit erlaubt. Sie können aktiver ihre Freizeit und ihr gesellschaftliches Leben gestalten.

Was treibt Homosexuelle zu Bareback-Partys, bei denen Sex bewusst ohne Kondom betrieben wird?

Alleine, dass es schon einen Begriff dafür gibt, ist ein Unsinn. Es wundert mich, dass da so genau hingeschaut wird, während andere Bereiche völlig ausgeblendet werden. Ich frage mich zum Beispiel, was heterosexuelle Familienväter dazu veranlasst, mit Auto und Kindersitz auf der Rückbank auf dem Straßenstrich umherzufahren, um ganz gezielt Sex ohne Kondom zu haben. Und zwar mit weiblichen Prostituierten auf dem Beschaffungsstrich, denen deutlich anzusehen ist, dass es körperlich schwer kranke Frauen sind. Was verleitet so jemanden dazu? Es gibt Dinge, die kann ich nicht nachvollziehen.

Gibt es eine Ermüdung im Umgang mit HIV?

Es gibt natürlich nach all den Jahren der Last wieder eine Sehnsucht, unbeschwert zu leben. Menschlich ist das durchaus nachvollziehbar. Das es aber einen solchen Kult erlangt, ist ungewöhnlich. Vielleicht kommt diese Freiheitssehnsucht auf, weil die Schwere der Bilder nicht mehr da ist. In den Jahren, in denen laufend Leute gestorben sind, gab es eine Sensibilisierung in der Schwulenszene. Das kollektive Trauma hat nachgelassen. Was auch damit zu tun hat, dass AIDS unsichtbar geworden ist.

Wann wird es einen Impfstoff gegen AIDS geben?

Auf den Kongressen höre ich, dass allerfrühestens in zehn Jahren ein Produkt am Markt sein könnte, das das HI-Virus wirklich festsetzen könnte. Eine wirklich präventive Impfung ist aber überhaupt nicht in Sicht.

Ich danke für das Gespräch.

Jörg Korell (45) ist Leiter der Aidshilfe Hamburg. Mit dem Thema HIV befasst er sich, seitdem HIV bekannt ist. Bei der AIDS-Hilfe ist er seit 17 Jahren.

Links zum Thema
Deutsche AIDS-Hilfe
AIDS-Hile Hamburg
aidshilfe-beratung.de


 
 



 

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