St. Petersburg war einmal die prächtigste Stadt Russlands. War. Doch die Vergangenheitsform wollen die Bewohner oft nicht wahrhaben. Weiterhin feiern sie die gute alte Zeit
Von Kersten Riechers
Mein Abenteuer beginnt mitten in der Nacht, als ich vom Flughafen abgeholt werde. Mein Gastvater fährt für mich eine kleine Sightseeingtour durch Sankt Petersburg. Die Scheiben unseres Ladas sind blind, nur einer der zwei Scheibenwischer kratzt vorne über die Windschutzscheibe. Das Wenige, was ich sehe, wirkt imposant. Bei vorgegebenem Tempo Fünfzig fahren wir an die Hundert. Später erfahre ich, den Führerschein kann man auch käuflich erwerben. In einer scharfen Kurve bei Tempo Achtzig erzählt mir meine Austauschschülerin, ihr Vater sei Verkehrspolizist.
Zuhause im neunten Stock angekommen, empfiehlt mir meine Gastmutter den Blick aus dem Fenster. Freunde hätten gesagt, die Lichter am Horizont hätten etwas von Hollywood. Sie lacht: "Warte, wie es morgen bei Tageslicht aussieht."
Ich bin schon früh wach. Ein Rudel wilder Hunde hat mich unruhig schlafen lassen. Ich sehe aus dem Fenster. Vor mir erstrecken sich Wellblechgaragen, dazwischen im Schlamm feststeckender Autoschrott. Im Hintergrund wird eine Reihe von Hochhäusern durch einen riesigen Industrieschornstein unterbrochen. Die Einwohner nennen ihre Vororte Schlafstädte.
In den nächsten Tagen bewege ich mich zwischen zwei Welten. Die oft zitierte Schere zwischen arm und reich ist hier Alltag. Ein Päckchen Zigaretten bekommt man hier ab vier Rubel, das sind 11 Cent. Ein Bier in der Kneipe kostet um die vierzig. Ich bin hier reich. Aber keineswegs so reich, dass ich auffallen würde. Die Menschen in der Innenstadt haben nichts typisch Russisches an sich. Die Leute um mich herum würden in London oder Paris nicht mehr oder weniger auffallen.
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Unsere Fremdenführerin mag die Deutschen nicht
Dennoch gibt es einen Unterschied, der frappiert. Diese Leute findet man auch in der Schlafstadt. Sie stolpern über verwitterte Autoreifen, benutzen Holzlatten, um Schlaglöcher und Gruben zu überqueren, gehen an den dampfenden Löchern der Kanalisation vorbei. An der "Haltestelle" stehen gut angezogene Leute jeden Alters, mit teuren Handys am Ohr. Wir warten auf den Bus, der eigentlich keiner ist. Der Bus ist eine
Marschrutka
, ein umgebauter Van einer Privatgesellschaft, die das unzureichende öffentliche Verkehrsnetz ergänzt. Die Leute zwängen sich in die klapprigen Gefährte.
Weiter geht es mit der Metro, sie trägt mich zu meinem nächsten Kulturerlebnis: Die Peter-und-Pauls-Kirche im historischen Zentrum. Unsere Fremdenführerin spricht zwar verständliches Deutsch, aber schnell wird klar, dass sie die Deutschen nicht mag. Sie hat den Krieg noch selbst erlebt, in jedem ihrer Sätze schwingt anti-westliche Propaganda mit. Der Kult, der in dieser Stadt um den Erbauer Peter den Großen gemacht wird, ist uns längst bekannt. Aber dies ist mehr als Lokalpatriotismus. Erst spricht sie von der Newa, dem großen Fluss, der die Stadt durchfließt und der für sie die "Hauptstraße Sankt Petersburgs" ist. Sie behauptet: "Keine der großen westlichen Städte hat so einen großen Fluss. Hat London einen solchen Fluss? Nein. Paris? Nein!" Sie fährt mit der nächsten Exklusivität fort: "Habt ihr komplizierte Glockenspiele in Deutschland? Nein, habt ihr nicht!".
Auf der Straße setzt sich diese subtile Propaganda fort. Es sind nur noch wenige Tage bis zum 9. Mai, "der Tag, an dem die Rote Armee die Wehrmacht besiegte und Sankt Petersburg von einer 900-tägigen Belagerung befreite", erklärt mir meine Austauschschülerin. Die staatlichen Plakate, die überall in der Stadt hängen, zeigen nicht nur Kriegsveteranen – "Wir danken euch, ihr Helden!". Gezeigt werden auch die sowjetischen Symbole: Hammer und Sichel. Einige, mit denen ich darüber gesprochen habe, verurteilen diese Kampagnen. Sie machen sich über die Paraden im Fernsehen lustig. Für viele scheint es dennoch wirklich ein Festtag zu sein. Mit der Sowjetunion brach auch eine Ideologie zusammen.
Dieses Jahr wird der Tag des Sieges zum 60. Mal gefeiert. Die Sonne scheint. Zuvor haben russische Kampfjets außerhalb der Stadt Regenwolken chemisch abregnen lassen. Am Tag sehen wir Militärparaden. Das Elend in der Stadt ist an diesem Tag kein Thema. In der Bahn sitzt vor mir ein ziemlich heruntergekommener Rentner. An seinem Revers ein vergilbter Anstecker: Er war einmal der Sportlichste der Truppe.
Zum Abend hin bauen sich Aggression und Alkoholpegel stetig auf. An den Metrostationen in der Innenstadt herrscht Chaos. In den Tunneln schwirren Flaschen und Armeelieder aus dem Zweiten Weltkrieg. Einem deutschen Freund wird eine russische Flagge in die Hand gedrückt: "Du sprichst heute besser kein Deutsch mehr."
Mein Abenteuer beginnt mitten in der Nacht, als ich vom Flughafen abgeholt werde. Mein Gastvater fährt für mich eine kleine Sightseeingtour durch Sankt Petersburg. Die Scheiben unseres Ladas sind blind, nur einer der zwei Scheibenwischer kratzt vorne über die Windschutzscheibe. Das Wenige, was ich sehe, wirkt imposant. Bei vorgegebenem Tempo Fünfzig fahren wir an die Hundert. Später erfahre ich, den Führerschein kann man auch käuflich erwerben. In einer scharfen Kurve bei Tempo Achtzig erzählt mir meine Austauschschülerin, ihr Vater sei Verkehrspolizist.
Zuhause im neunten Stock angekommen, empfiehlt mir meine Gastmutter den Blick aus dem Fenster. Freunde hätten gesagt, die Lichter am Horizont hätten etwas von Hollywood. Sie lacht: "Warte, wie es morgen bei Tageslicht aussieht."
Ich bin schon früh wach. Ein Rudel wilder Hunde hat mich unruhig schlafen lassen. Ich sehe aus dem Fenster. Vor mir erstrecken sich Wellblechgaragen, dazwischen im Schlamm feststeckender Autoschrott. Im Hintergrund wird eine Reihe von Hochhäusern durch einen riesigen Industrieschornstein unterbrochen. Die Einwohner nennen ihre Vororte Schlafstädte.
In den nächsten Tagen bewege ich mich zwischen zwei Welten. Die oft zitierte Schere zwischen arm und reich ist hier Alltag. Ein Päckchen Zigaretten bekommt man hier ab vier Rubel, das sind 11 Cent. Ein Bier in der Kneipe kostet um die vierzig. Ich bin hier reich. Aber keineswegs so reich, dass ich auffallen würde. Die Menschen in der Innenstadt haben nichts typisch Russisches an sich. Die Leute um mich herum würden in London oder Paris nicht mehr oder weniger auffallen.
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Unsere Fremdenführerin mag die Deutschen nicht
Dennoch gibt es einen Unterschied, der frappiert. Diese Leute findet man auch in der Schlafstadt. Sie stolpern über verwitterte Autoreifen, benutzen Holzlatten, um Schlaglöcher und Gruben zu überqueren, gehen an den dampfenden Löchern der Kanalisation vorbei. An der "Haltestelle" stehen gut angezogene Leute jeden Alters, mit teuren Handys am Ohr. Wir warten auf den Bus, der eigentlich keiner ist. Der Bus ist eine
Marschrutka
, ein umgebauter Van einer Privatgesellschaft, die das unzureichende öffentliche Verkehrsnetz ergänzt. Die Leute zwängen sich in die klapprigen Gefährte.
Weiter geht es mit der Metro, sie trägt mich zu meinem nächsten Kulturerlebnis: Die Peter-und-Pauls-Kirche im historischen Zentrum. Unsere Fremdenführerin spricht zwar verständliches Deutsch, aber schnell wird klar, dass sie die Deutschen nicht mag. Sie hat den Krieg noch selbst erlebt, in jedem ihrer Sätze schwingt anti-westliche Propaganda mit. Der Kult, der in dieser Stadt um den Erbauer Peter den Großen gemacht wird, ist uns längst bekannt. Aber dies ist mehr als Lokalpatriotismus. Erst spricht sie von der Newa, dem großen Fluss, der die Stadt durchfließt und der für sie die "Hauptstraße Sankt Petersburgs" ist. Sie behauptet: "Keine der großen westlichen Städte hat so einen großen Fluss. Hat London einen solchen Fluss? Nein. Paris? Nein!" Sie fährt mit der nächsten Exklusivität fort: "Habt ihr komplizierte Glockenspiele in Deutschland? Nein, habt ihr nicht!".
Auf der Straße setzt sich diese subtile Propaganda fort. Es sind nur noch wenige Tage bis zum 9. Mai, "der Tag, an dem die Rote Armee die Wehrmacht besiegte und Sankt Petersburg von einer 900-tägigen Belagerung befreite", erklärt mir meine Austauschschülerin. Die staatlichen Plakate, die überall in der Stadt hängen, zeigen nicht nur Kriegsveteranen – "Wir danken euch, ihr Helden!". Gezeigt werden auch die sowjetischen Symbole: Hammer und Sichel. Einige, mit denen ich darüber gesprochen habe, verurteilen diese Kampagnen. Sie machen sich über die Paraden im Fernsehen lustig. Für viele scheint es dennoch wirklich ein Festtag zu sein. Mit der Sowjetunion brach auch eine Ideologie zusammen.
Dieses Jahr wird der Tag des Sieges zum 60. Mal gefeiert. Die Sonne scheint. Zuvor haben russische Kampfjets außerhalb der Stadt Regenwolken chemisch abregnen lassen. Am Tag sehen wir Militärparaden. Das Elend in der Stadt ist an diesem Tag kein Thema. In der Bahn sitzt vor mir ein ziemlich heruntergekommener Rentner. An seinem Revers ein vergilbter Anstecker: Er war einmal der Sportlichste der Truppe.
Zum Abend hin bauen sich Aggression und Alkoholpegel stetig auf. An den Metrostationen in der Innenstadt herrscht Chaos. In den Tunneln schwirren Flaschen und Armeelieder aus dem Zweiten Weltkrieg. Einem deutschen Freund wird eine russische Flagge in die Hand gedrückt: "Du sprichst heute besser kein Deutsch mehr."