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Gefühls-Lupe

Ich fühle mich November

Zwischen goldenem Oktober und weihnachtlichem Dezember liegen vier dunkle, graue Wochen, die gar nicht mehr sein wollen, als sie sind: ein nebelverhangenes Niemandsland. Warum ist der November eigentlich so beschissen?

Manche Dinge passieren einfach so und man kann nichts machen, damit sie nicht passieren. Zum Beispiel morgens aufzuwachen. Da habe ich prinzipiell nichts gegen. Aber heute morgen hätte ich lieber weitergeschlafen, denn ich habe gestern Nacht vom Sommer geträumt: mit blauem Himmel, Sonne und so. Ein Wimpernschlag kickte mich aus dem Schlummerland – mein wolkenloser Traum verpuffte. Augenblinzeln. Orientierungslosigkeit. Sekunden später war ich wach. Und mein Blick auf den Kalender holte mich in die trübe Realität, weit entfernt vom strahlenden Sommer. Jetzt brechen sie an, die dunkelsten vier Wochen im Jahr. Aufzuwachen und plötzlich ist es November. Das ist echt scheiße.

Es ist immer dasselbe: Ich mag diesen Monat nicht, aber ich muss durch ihn durch, ob ich nun will oder nicht. Der November ruft eine dumpfe Hilflosigkeit in mir hervor, ich sehe mich seiner jahreszeitlichen Selbstverständlichkeit ausgeliefert. Das macht mich depressiv. Nicht nur mich. Ich kenne Leute, die haben regelrecht Panik vor diesen Wochen und benutzen "ich fühl mich November" als geflügelte Redewendung. Es wäre so schön, den Monat zu überspringen, mit Hilfe einer Zeitmaschine direkt durchstarten in den festlich funkelnden Dezember! Denn der November hat es wirklich in sich. Er ist eigen. Phlegmatisch. Antriebslos. Er steht nicht auf Imagewechsel, fügt sich in sein Schicksal, nie mehr zu sein, als er stets war: ein nebelverhangenes Niemandsland, lethargisch lungernd zwischen dem blätterbunten Oktober und dem weihnachtlichen Dezember. Das Laub ist weg, die Bäume ragen staksig-kahl, und Schnee, der sie umhüllen könnte, ist noch nicht zu erwarten. Meteorologisch gesehen ist der November absolut gleichförmig, ohne jede Fantasie, beschränkt sich nur auf Grau in Grau. Und ist dazu noch kalt. Ätzend. Meine November-Neurose wirft sich in Positur.

Augen zu und durch? Parole "durchhalten"? Nein!

Doch halt. Will ich das wirklich wieder so machen? Augen zu und durch wie jedes Jahr? Mich in passiver Seelenschwere der Parole "durchhalten" ergeben, bis dieser Monat, vielmehr Zustand endlich rum ist? Nein! Indem ich das Unabänderliche verdamme und mich 30 Tage schlecht fühle, mache ich es mir nur selber schwer. Und dafür ist das Leben ja wohl echt zu kurz. Aufzuzählen, was ich alles tun könnte um meine November-Depression zu dämpfen, viel Sport machen, ins Kino gehen, in Clubs gehen, tanzen, flirten, was das Zeug hält – bei diesen konsumorientierten Lösungsansätzen alleine will ich es diesmal aber nicht belassen. Das Wetter spielt nun mal eine tragende Rolle in der menschlichen Gefühlswelt. Also muss ich mich mit dem Auslöser meiner Neurose analytisch auseinandersetzen und einmal der Frage auf den Grund gehen: Warum fühlt man sich eigentlich im November so beschissen – und was macht ihn zu dem, was er ist?

Ich grübele. Da ist der Januar, der für den Aufbruch ins neue Jahr steht oder der Mai, der den Frühling in die Herzen pflanzt. Die Monate Juni bis August sind eh raus, die haben den Sommer für sich gepachtet. Der Oktober glänzt golden, der Dezember ist lamettafein. Alles entschlossene, standfeste Monate also, die eine Bestimmung, einen konkreten Auftrag haben. Und dann sind da noch die anderen. Die wankelmütigen oder gleichgültigen Monate, die sich keine Mühe machen, zu überraschen. Weil sie keine Bestimmung haben. Keinen konkreten Auftrag. Im Grunde nicht gewollt sind, maximal zum Überbrücken dienen. Ein undankbarer Job. Ihren Frust darüber entladen sie im Wetter. Der November überdies ist besonders arm dran, ist er doch schon rein inhaltlich auf Melancholie getrimmt. Welcher Monat sonst ist gestraft mit so desolaten Daten wie Totensonntag oder Volkstrauertag?

Der November nötigt mich andererseits auch nicht, durchgehend das Haus zu verlassen, wie etwa der nicht lockerlassende Juli, der Aktivitäten aller Art ins Freie zwingt, nur weil draußen in einer Tour die Sonne scheint! Zuhause bleiben oder rausgehen – ich hab nicht mehr die Qual der Wahl. Das bedeutet weniger Freizeit-Stress, und ich bin auch noch voll hipp, wenn ich auf der Cocooning-Welle schwimme, mich ohne schlechtes Gewissen in meine Wohnung einigle, Kerzen anzünde, mich mit Freunden zu Spiele- und Rotwein-Abenden treffe.

Vielleicht wird also alles gar nicht so schlimm. Ich bin stolz auf meinen neuen gelassenen Umgang mit wetterbedingter Überreiztheit und runde meine Überlegungen ab, indem ich abends noch einen Freund anrufe. Er hat das "Buch der Antworten" zuhause, ein besonderes Orakel: Man stellt eine Ja/Nein-Frage, schlägt ohne Hinzugucken irgendeine Seite auf und findet dort die Antwort. Ich frage meinen Freund: "Wird mich der Monat für meinen neuen Annäherungsversuch an sein zähes Wesen belohnen?" Mein Freund liest mir die Antwort vor: "Du wirst möglicherweise Widerstand spüren." Ich muss dringend das Konzept für die Zeitmaschine ausarbeiten.

Manche Dinge passieren einfach so und man kann nichts machen, damit sie nicht passieren. Zum Beispiel morgens aufzuwachen. Da habe ich prinzipiell nichts gegen. Aber heute morgen hätte ich lieber weitergeschlafen, denn ich habe gestern Nacht vom Sommer geträumt: mit blauem Himmel, Sonne und so. Ein Wimpernschlag kickte mich aus dem Schlummerland – mein wolkenloser Traum verpuffte. Augenblinzeln. Orientierungslosigkeit. Sekunden später war ich wach. Und mein Blick auf den Kalender holte mich in die trübe Realität, weit entfernt vom strahlenden Sommer. Jetzt brechen sie an, die dunkelsten vier Wochen im Jahr. Aufzuwachen und plötzlich ist es November. Das ist echt scheiße.

Es ist immer dasselbe: Ich mag diesen Monat nicht, aber ich muss durch ihn durch, ob ich nun will oder nicht. Der November ruft eine dumpfe Hilflosigkeit in mir hervor, ich sehe mich seiner jahreszeitlichen Selbstverständlichkeit ausgeliefert. Das macht mich depressiv. Nicht nur mich. Ich kenne Leute, die haben regelrecht Panik vor diesen Wochen und benutzen "ich fühl mich November" als geflügelte Redewendung. Es wäre so schön, den Monat zu überspringen, mit Hilfe einer Zeitmaschine direkt durchstarten in den festlich funkelnden Dezember! Denn der November hat es wirklich in sich. Er ist eigen. Phlegmatisch. Antriebslos. Er steht nicht auf Imagewechsel, fügt sich in sein Schicksal, nie mehr zu sein, als er stets war: ein nebelverhangenes Niemandsland, lethargisch lungernd zwischen dem blätterbunten Oktober und dem weihnachtlichen Dezember. Das Laub ist weg, die Bäume ragen staksig-kahl, und Schnee, der sie umhüllen könnte, ist noch nicht zu erwarten. Meteorologisch gesehen ist der November absolut gleichförmig, ohne jede Fantasie, beschränkt sich nur auf Grau in Grau. Und ist dazu noch kalt. Ätzend. Meine November-Neurose wirft sich in Positur.

Augen zu und durch? Parole "durchhalten"? Nein!

Doch halt. Will ich das wirklich wieder so machen? Augen zu und durch wie jedes Jahr? Mich in passiver Seelenschwere der Parole "durchhalten" ergeben, bis dieser Monat, vielmehr Zustand endlich rum ist? Nein! Indem ich das Unabänderliche verdamme und mich 30 Tage schlecht fühle, mache ich es mir nur selber schwer. Und dafür ist das Leben ja wohl echt zu kurz. Aufzuzählen, was ich alles tun könnte um meine November-Depression zu dämpfen, viel Sport machen, ins Kino gehen, in Clubs gehen, tanzen, flirten, was das Zeug hält – bei diesen konsumorientierten Lösungsansätzen alleine will ich es diesmal aber nicht belassen. Das Wetter spielt nun mal eine tragende Rolle in der menschlichen Gefühlswelt. Also muss ich mich mit dem Auslöser meiner Neurose analytisch auseinandersetzen und einmal der Frage auf den Grund gehen: Warum fühlt man sich eigentlich im November so beschissen – und was macht ihn zu dem, was er ist?

Ich grübele. Da ist der Januar, der für den Aufbruch ins neue Jahr steht oder der Mai, der den Frühling in die Herzen pflanzt. Die Monate Juni bis August sind eh raus, die haben den Sommer für sich gepachtet. Der Oktober glänzt golden, der Dezember ist lamettafein. Alles entschlossene, standfeste Monate also, die eine Bestimmung, einen konkreten Auftrag haben. Und dann sind da noch die anderen. Die wankelmütigen oder gleichgültigen Monate, die sich keine Mühe machen, zu überraschen. Weil sie keine Bestimmung haben. Keinen konkreten Auftrag. Im Grunde nicht gewollt sind, maximal zum Überbrücken dienen. Ein undankbarer Job. Ihren Frust darüber entladen sie im Wetter. Der November überdies ist besonders arm dran, ist er doch schon rein inhaltlich auf Melancholie getrimmt. Welcher Monat sonst ist gestraft mit so desolaten Daten wie Totensonntag oder Volkstrauertag?

Der November nötigt mich andererseits auch nicht, durchgehend das Haus zu verlassen, wie etwa der nicht lockerlassende Juli, der Aktivitäten aller Art ins Freie zwingt, nur weil draußen in einer Tour die Sonne scheint! Zuhause bleiben oder rausgehen – ich hab nicht mehr die Qual der Wahl. Das bedeutet weniger Freizeit-Stress, und ich bin auch noch voll hipp, wenn ich auf der Cocooning-Welle schwimme, mich ohne schlechtes Gewissen in meine Wohnung einigle, Kerzen anzünde, mich mit Freunden zu Spiele- und Rotwein-Abenden treffe.

Vielleicht wird also alles gar nicht so schlimm. Ich bin stolz auf meinen neuen gelassenen Umgang mit wetterbedingter Überreiztheit und runde meine Überlegungen ab, indem ich abends noch einen Freund anrufe. Er hat das "Buch der Antworten" zuhause, ein besonderes Orakel: Man stellt eine Ja/Nein-Frage, schlägt ohne Hinzugucken irgendeine Seite auf und findet dort die Antwort. Ich frage meinen Freund: "Wird mich der Monat für meinen neuen Annäherungsversuch an sein zähes Wesen belohnen?" Mein Freund liest mir die Antwort vor: "Du wirst möglicherweise Widerstand spüren." Ich muss dringend das Konzept für die Zeitmaschine ausarbeiten.


 
 



 

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