Die HIV-infizierte Madlaine lebt in der Gewissheit, dass sie an ihrer Krankheit sterben wird. Zu dem, was das Virus anrichtet, kommt das, was die Menschen anrichten
„Ich sehe nicht ein, dass ich mich damit verstecken soll“, sagt Madlaine. Es fällt ihr nicht immer leicht. Seit 13 Jahren trägt sie das Virus in sich. Seit 13 Jahren weiß sie, dass es sie töten wird. Es ist das Virus, das man nicht besiegen kann. Human Immunodeficiency Virus heißt es – HIV.
Vor einigen Monaten hat Madlaines Arzt gesagt, dass sie jetzt Medikamente nehmen müsse um das AIDS aufzuhalten. „Du weißt, dass ich sie nicht nehmen werde“, hat sie ihm gesagt. Lieber will sie früh sterben, als ihr Leben noch mehr vom Virus abhängig zu machen. Drei Jahre dauert es vielleicht noch, dann wird sie tot sein. Sie hat genug davon. Von den Schmerzen, von den Vorurteilen, von der Einsamkeit.
Madlaine will ihre Geschichte erzählen, um andere zu warnen. Immer noch seien die Menschen zu leichtsinnig, weil sie meinen, mit den richtigen Medikamenten lasse es sich normal weiterleben. Auch Madlaine war zu leichtsinnig, nun wird sie sterben. „Wenn nur ein Mensch verhütet, weil er meine Geschichte kennt, dann habe ich schon etwas erreicht“, sagt sie. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum sie reden will: Da sind die Vorurteile, auf die sie trifft, das Unverständnis, mit dem man ihr begegnet, die Einsamkeit, weil die Menschen immer noch Angst davor haben, einer Infizierten die Hand zu geben. „Es würde schon helfen, wenn die Leute mit mir aus einem Glas trinken würden. Oder wenn sie mich in den Arm nehmen würden. Wie früher.“ Madlaines Stimme klingt verzweifelt, wenn die von den Reaktionen der Menschen erzählt, manchmal wütend.
Madlaine sucht keine Entschuldigung
Die Geschichte beginnt im Jahr 1992. Im Sommer lernt Madlaine einen Mann kennen. Damals ist sie 34 Jahre alt. Sie schlafen miteinander, haben eine gute Zeit. Dann ist er wieder weg. Im September kippt Madlaine um, wacht erst im Krankenhaus wieder auf. Die Ärzte sagen, sie habe eine schwere Lungenentzündung. Maidlaine hat eine böse Ahnung und bittet um einen AIDS-Test – zunächst ist das Ergebnis negativ. Erst Wochen später diagnostiziert ihr Hausarzt das richtige Ergebnis: Madlaine hat sich angesteckt. „Es quält mich immer noch, dass ich so dumm sein konnte“, sagt sie. Sie sucht keine Entschuldigung dafür, dass sie damals kein Kondom benutzte. „Ich mache mir Vorwürfe“, sagt sie stattdessen.
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Die Erinnerung quält sie, weil die Krankheit ihr so viel genommen hat. Sie war einmal selbstständig, hatte einen eigenen Laden, in dem sie Bücher und Spielzeug verkaufte. Mit 43 konnte sie nicht mehr. Seitdem ist sie Frührentnerin. Sie macht Telefonumfragen, manchmal bekommt sie einen Komparsenjob an der Oper.
Seit Madlaine von ihrer Infektion weiß, versucht sie, so viel wie möglich über das Virus zu erfahren. In Kalkutta arbeitete sie beim Orden Mutter Theresas, beschäftigte sich mit dem Tod. Immer wieder besuchte sie seitdem die Schwestern dort. In Deutschland fing sie an, sich bei der AIDS-Hilfe einzubringen, lernte Menschen kennen, die ihr Schicksal teilten. Sie pflegte einen jungen Mann. Stundenlang saß sie an seinem Bett, fütterte ihn mit Teelöffeln, sah zu, wie er erblindete. Als er starb, war er gerade einmal 22 Jahre alt.
Sie selbst spürt die Krankheit immer mehr. Manchmal ist sie tagelang zu schwach zum Aufstehen, kann ihre Wohnung kaum noch verlassen. Immer öfter ist sie krank. Immer öfter verschwimmen beim Lesen die Buchstaben vor ihren Augen. Und immer öfter erinnern sie diese Dinge an das Virus.
Sie versucht, ihre Schwäche zu verbergen
Zu dem, was das Virus anrichtet, kommt das, was die Menschen anrichten. Eine alte Freundin brach den Kontakt ab. Aus Angst um ihre Kinder, wie sie sagte. Ein Freund weigerte sich, ihr seine Hand zu geben. Er wolle sich nicht anstecken.
Vorurteile und Unwissen sind für Madlaine kein Grund, zu verheimlichen, dass sie krank ist. Das Thema werde von so vielen totgeschwiegen, meint sie. „Wenn ich schweige, habe ich auch Schuld.“ Wenn sie sich schlecht fühlt, schminkt sie sich besonders gut, macht sich besonders schick, um ihre Schwäche zu verbergen. Und dann ist sie sauer auf sich selbst. Weil sie mitarbeitet an dem Eindruck, AIDS sei nicht so schlimm.
Bald wird sie es nicht mehr verbergen können. Dann wird die Krankheit so schlimm sein, dass sie auf Hilfe angewiesen ist. Sie will so lange in ihrer Wohnung im ersten Stock wohnen bleiben, wie es irgendwie geht. „Ich ziehe erst aus“, sagt sie, „wenn ich ins Krankenhaus muss.“ Wer dann die Wohnung auflöst, ist bereits geklärt. Ein Grab hat sie auch schon, und einen Kreis von AIDS-Kranken, die sich gegenseitig versprochen haben, ihre Gräber zu pflegen. Sie hat sich mit ihrem Vater versöhnt, ihre Schulden bezahlt. Madlaine ist erst 47. Selbst für ihren Kater hat sie schon ein neues Zuhause gefunden.
Madlaine könnte die Krankheit hinauszögern, aber sie will nicht. „Ich kann für 3.000 Euro im Monat Tabletten schlucken, weil ich hier geboren bin“, sagt sie. „Ein anderer, der vielleicht in China oder Indien geboren ist, der vielleicht viel intelligenter und viel wichtiger und vielleicht moralisch besser ist als ich, muss früher sterben.“ Madlaines Zeit in Kalkutta hat sie bescheiden gemacht.
Sie will nicht dauernd auf ihre Blutwerte gucken. Sie will auch nicht von anderen gewaschen werden müssen, so wie sie es schon oft selbst getan hat. Aber wie ihr Tod sein wird, wie lange es dauern wird, das kann sie nicht wissen. Wenn das Thema so konkret wird, wird auch die offensive Madlaine sehr still. Leise sagt sie: „Meine Hoffnung ist, dass es schnell geht.“