Höhenangst
Der Alptraum vom Fliegen
Während Zimmermänner über das Dachgebälk laufen, als sei es eine Bordsteinkante, wird dem Akrophoben schon beim Anblick schwindelig. Höhenangst beschränkt das Leben vieler Menschen – und kann doch vor dem Tod retten
Das Hochhaus steht direkt am Volkspark. Die Aussicht von dort oben muss großartig sein, deshalb gehen wir zur Klingelanlage und drücken alle Knöpfe. Die Tür öffnet sich, und wir fahren in das oberste Stockwerk. Über das Treppenhaus gelangen wir auf einen der Balkone. Zunächst schaue ich in die Weite, dann nach unten. Meine Knie werden weich und ich spüre, wie mich die Tiefe anzieht. Ich habe keine Angst, aber der Sog erschreckt mich: Der Wunsch, hinunter zu springen wird immer stärker. Ich gehe einen Schritt zurück.
Dieses Phänomen, vom dem ich das erste Mal in
Die Unsterblichkeit
von Milan Kundera gelesen habe, betrifft weder mich allein noch eine auserlesene Anzahl von Nervenschwachen. Das Lexikon beschreibt es als "das Gefühl des Hinabgezogenwerdens beim Hinunterblicken von hohen, steil abfallenden Standpunkten." Der Eintrag findet sich unter dem Stichwort Höhenschwindel und schildert ein weit verbreitetes Phänomen: Bei nahezu jedem dritten Menschen wird das Gleichgewicht beim Blick in die Tiefe beeinträchtigt.
Das Schwindelgefühl entsteht, weil das Auge zu weit vom nächsten Objekt entfernt ist, beispielsweise einem Auto, das es gerade anvisiert. Um es scharf sehen zu können, schwankt der Kopf automatisch etwas, denn wir erkennen Gegenstände nicht nur mit der zentralen Netzhaut, sondern benutzen zum Sehen das gesamte Auge. Das Schwanken wird allerdings durch das Gleichgewichtsorgan im Ohr wieder ausgeglichen. Wie anfällig man für Schwindelgefühl ist, liegt also daran, wie gut der Gleichgewichtssinn ausgeprägt ist. Wer leicht seekrank wird oder sich als Kind beim Autofahren öfters übergeben musste, ist auch anfälliger für Höhenschwindel – und damit auch gefährdeter.
Der Instinkt ist jedoch von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark ausgeprägt. So eignen sich die einen zu Dachdeckern, die selbstbewusst und ohne jeden Anflug von Schwindel auf den höchsten Bauwerken spazieren gehen. Tobias Kirchgeorg (Foto) lässt sich von keiner Höhe verängstigen, solange er sicher in den Seilen hängt. Nachdem er sein Studium als Sozialpädagoge abgeschlossen hatte, fand er ausgerechnet als Industriekletterer einen Job - ohne jegliche Erfahrung zu besitzen. Er machte einen einwöchigen Kletterkurs und ging kurze Zeit später mit seiner Firma nach München, um die Unterdecke in das Dach der neuen Allianz-Arena zu ziehen. Trotz Tiefen von bis zu 50 Metern konnte er seine Hände problemlos ruhig halten und die Montagearbeiten verrichten.
Bei anderen löst der Höhenschwindel dagegen solche Angst aus, dass sie psychologisch behandelt werden müssen. Dr. Maria Jockers-Scherübl vom Universitätskrankenhaus Charité behandelt Patienten, deren Angst zu einer Krankheit ausgeartet ist. Da gibt es Menschen, die sich den gefährlichen Weg über eine Schnellstraße bahnen, weil sie nicht in der Lage sind, die Fußgängerbrücke zu überqueren. Bei vielen ist die Angst angeboren und hat sich mit der Zeit zu einer Phobie hochgeschaukelt. Andere hatten traumatische Unfälle, die sie vollständig verunsichert haben und nun verarbeiten müssen.
Doch mit etwas Training können auch Angstpatienten das Problem in den Griff bekommen. Wer an einfachem Höhenschwindel leidet, kann ebenfalls etwas dafür tun, sich wieder sicherer zu fühlen. Er muss sich der Herausforderung stellen und häufiger hohe Gebäude betreten, damit er sich mit der Zeit an die Höhe gewöhnt. Zunächst sollte der Betroffene aber darauf achten, die Sinnesorgane nicht zu überfordern. Der Kopf muss möglichst gerade gehalten werden, und der Blick in die Ferne darf nicht zu lang andauern. Wer sich also auf einem Hochhausbalkon befindet, sollte nicht gleich den Kopf senken und das entfernteste Fahrzeug am Boden ansehen. Sonst endet es mit einem blassfahlen Gesicht und dem überlegenen Grinsen seiner Freunde.
Von Crisse Küttler