Texte begegnen uns überall. Neulich wurde mir klar, warum man sie dann und wann genauer beachten sollte.
Die Kolumne von Selim Özdogan
In der Annahme, daß lesen gleich Bücher lesen bedeutet, wird gerne geklagt, daß immer weniger Jugendliche lesen, daß überhaupt immer weniger gelesen wird. In der Annahme, daß Lesen bildet und die Lebensqualität steigert, werden Wege gesucht, junge Menschen an Bücher heranzuführen.
Ich habe im Literaturbetrieb jede Menge Leute kennengelernt, die wohl eine Art von Bildung besitzen und davon zweifelsohne mehr als ich. Was nichts daran ändert, daß so einige neidisch, mißgünstig, selbstverliebt, gierig, geizig, cholerisch, kleinlich oder gar hinterhältig sind. Ich weiß nicht genau, was all diese Bücher bilden, aber ich weiß, daß Menschen lesen. Alle.
Sie lesen die Rückseiten von Cornflakespackungen, die Bastelanleitung in Überraschungseiern, Beipackzettel, den Fahrplan, die Werbung in der U-Bahn, Briefe vom Amt, Hinweisschilder, Aushänge im Treppenhaus, die Aufschrift auf dem Antischuppenshampoo. Gebrauchstexte aller Art. Wie Etiketten von Weinflaschen im Supermarkt. Auf denen häufig Angaben zur Trinktemperatur gemacht werden, zum Geschmack und zu welchen Gerichten das Getränk passt.
Auf einem Etikett las ich vor einiger Zeit: Dieser Wein passt sich den Erfordernissen einer modernen Gastronomie an.
Das hörte sich gut an, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was es wohl bedeutet. Dieser Wein passt sich den Erfordernissen einer modernen Gastronomie an. Ein Satz, wie man ihn selten auf Weinflaschenetiketten findet.
Zu Hause habe ich festgestellt, daß das eine gekonnte Formulierung war für: Dieses Getränk schmeckt nach fast gar nichts. Doch da war die Flasche bereits gekauft und geöffnet.
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Gelesen wird fast immer. Doch meistens, ohne sich die Macht der Worte bewußt zu machen. Ohne sich Gedanken darüber zu machen, was genau dieses Lesen bewirkt. Erst dieses Etikett hat mir eröffnet, daß ich den Sätzen, die ich Tag für Tag eher nebenbei lese, mehr Aufmerksamkeit schenken sollte.
Sie können wie eine Tür sein, durch die man tritt, um noch mehr zu staunen im Land der Worte.