Hedonismus
Nutzen Sie ihre Jugend
TEIL 2
Ein Neujahrsfest wäre auch nichts Besonderes, würden wir jeden Tag Raketen und Böller anzünden und um Mitternacht mit Sekt anstoßen. Es wäre unfassbar langweilig. Als ich bei dieser Erkenntnis ankam, war es schon halb fünf Uhr morgens. Durch das Fenster des kleinen Häuschens konnte ich das letzte, klägliche Glitzern der Feuerwerke sehen, von den besoffenen Gelegenheits-Hedonisten am Strand abgefeuert.
Die drei Männer neben mir waren bereits von der Couch auf den Boden gerutscht, wo nun auch die fast leere Schnapsflasche stand. Das interessierte mich nicht. Dorian Gray war gerade zu der Einsicht gelangt, was für ein schrecklicher Mensch er gewesen war. Er verfluchte das Bild, das ihm ewige Jugend gegeben und all seine Sünden abgebildet hatte, um ihn unbefleckt zu lassen. "Sein ganzes Versagen ging darauf zurück. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde ihre sichere, schnelle Buße nach sich gezogen hätte. [...] Die Jugend hatte ihn verdorben."
Als ich dem betrunkenen Haufen um den Couchtisch schließlich Gute Nacht sagte, hatte Dorian Gray sich bereits umgebracht. Mit dem Messer, mit dem er zuvor seinen Portraitisten ermordet hatte, durchbohrte er sein Bildnis, das daraufhin wieder in jugendlichem Glanz erstrahlte. Auf dem Boden jedoch lag ein welker, runzeliger alter Mann mit einem Messer im Herzen.
Noch etwas duselig, weniger vom Sekt als von der Geschichte, ging ich zu dem kleinen Schuppen, in dem mein Freund und ich untergebracht waren. Kurz darauf tauchte auch er auf, ließ sich auf das Klappsofa fallen und deklarierte, ihm sei im Leben noch nie so schlecht gewesen. "Klasse", dachte ich. "Das wird bestimmt eine erholsame Nacht." Fünf Minuten später wankte er noch einmal aus der Tür und ließ eiskalte Winterluft in unseren ohnehin ungeheizten Verschlag. Das wäre noch auszuhalten gewesen. Sein erkältungsbedingtes, lautstarkes Schnarchen nicht mehr. Ich schnappte mir die Schlüssel zum Haus, zog meinen Mantel über die Schultern und tappte entschlossen durch den Schnee. Die Couch im Wohnzimmer würde mir reichen.
"Wie war das doch gleich mit der schnellen, sicheren Buße?" dachte ich noch kurz vor dem Einschlafen. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, mein Freund lag neben mir und fragte mich mit zugekniffenen Augen, wieso ich umgezogen sei. Ich gab auf. Manchmal muss man sich in sein Schicksal fügen.
Wahrscheinlich wird das später eine der Geschichten, die ich aus meiner Jugend erzähle. Geschichten aus der Jugend kann aber nur erzählen, wer auch altert. Auf ewig jung zu bleiben, wie es dem tragischen Helden Dorian Gray geschehen ist, das würde ich nicht wollen. Jedes Jahr die gleichen Feiern und Exzesse, Gesprächsthemen und Freunde. Wäre das Leben nicht entsetzlich langweilig mit der Gewissheit, dass man sich nicht verändern wird? Dass man im Spiegel nie etwas Neues entdecken kann? Auch wenn ich mich mit vierzig über meine Falten ärgere – ich möchte doch wissen wie es ist, sie zu haben.
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