Michael Jackson wurde auch einer und tanzte: Seit vierzig Jahren gibt es Musikvideos. Welches ist das beste?
Markus Kavkas Top 100
"Was soll denn das jetzt sein, dieses 'Triller'?", fragte mein Vater
irritiert in die Runde. "Sriller?! Kenn ich auch nicht.", erwiderte
meine Mutter. "Das heißt 'Thriller'!", korrigierten wir beide und
spuckten beim Versuch, unser bestes 'tee-aitsch' zu sprechen, kräftig
durchs Wohnzimmer.
Seit kurzem gab es da diese Sendung im Fernsehen. Aus einer Schrottplatzkulisse wurden von einem Moderator im Mechanikeranzug Videos
angesagt. Musikvideos! So etwas hatten wir vorher kaum gesehen. Jetzt
also
Formel Eins
, und schon recht bald bildete sich in unserem kleinen bayerischen Dorf eine Art Videoverehrungsgesellschaft. Einmal pro Woche
gruppierten wir uns um den Saba-Farbfernseher meiner Eltern herum, dem
einzigen im Freundeskreis mit einer Fernbedienung. Wobei man die
natürlich nicht brauchte, wenn
Formel Eins
lief.
Schon gar nicht an jenem Abend im Jahr 1983. Eine Sondersendung von
Formel Eins
flimmerte in die Wohnstube, und zwar nicht wie sonst am
frühen Abend, sondern viel später. Wenn ich mich recht erinnere, war es
schon nach 22 Uhr! So lange durfte ich mit knapp 16 natürlich schon
aufbleiben. Auch war ich exakt alt genug, um nun das zu sehen, was aus
Jugendschutzgründen gar nicht früher gezeigt werden durfte, nämlich:
Thriller
, das neue Video von Michael Jackson. Im Vorfeld hatten wir
schon ein bisschen was darüber erfahren. Sehr lang soll es sein, fast so
eine Art Minispielfilm, Regie führte ein gewisser John Landis, von dem
auch
American Werewolf
war, ein Film, bei dem sie uns 1981 nicht ins
Kino ließen. Was ich persönlich im Gegensatz zu meinen Kumpels nicht so
schlimm fand, weil ich mich noch gut daran erinnerte, wie ich kurz zuvor
heimlich
Der Exorzist
geguckt hatte und danach zwei Wochen lang nur
bei eingeschaltetem Licht und abgeschlossener Zimmertür schlafen konnte.
Ich befürchtete schon fast, dass
Thriller
etwas Ähnliches auslösen
könnte. Aber ich sah tapfer hin, fast 14 Minuten lang.
Wir waren sprachlos, alle zusammen. So etwas hatten wir vorher noch nie
gesehen. Als Michael nach zweieinhalb Minuten sich das erste Mal in
einen Werwolf verwandelte, gefror uns das Blut in den Adern, die
Schockstarre endete erst, als nach vier Minuten der Beat einsetzte und
damit der Song los ging. Dann kamen die Zombies, Michael wurde auch
einer und tanzte mit ihnen diese Mega-Choreographie, schließlich drehte
er sich am Schluss, als man eigentlich schon wieder dachte, er sei doch
normal, noch mal in die Kamera um, und seine Augen funkelten dabei gelb.
Gruselig!
Fast 25 Jahre ist das jetzt her, und anders als die meisten Musikvideos
von damals wirkt
Thriller
immer noch zeitgemäß, nicht von ungefähr
haben bei YouTube neun Millionen Menschen den Clip angesehen.
So viel hat sich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten in der
Musikvideokultur gar nicht geändert, zumindest gibt es noch Videos, ganz
im Gegensatz zu vielen anderen Dingen, die aufgrund massiver
Veränderungen in der Branche längst von der Bildfläche verschwunden
sind. Schallplatten? Kassetten? Sind nahezu ausgestorben, und auch der
CD geht es längst an den Kragen. Aber das Musikvideo will einfach nicht
gehen. Klar, die Einbrüche in der Musikindustrie sind auch an den Clips
nicht spurlos vorüber gegangen. Gerade als junge Band überlegt man sich
mittlerweile zweimal, ob es sich noch lohnt, mehrere tausend Euro zu
investieren, wenn das Teil vielleicht nirgendwo läuft. Andererseits kann
man aufgrund zahlreicher technischer Innovationen heutzutage für ein
deutlich kleineres Budget als noch vor zehn bis zwanzig Jahren einen
amtlichen Clip produzieren.
Ursprünglich sollte ein Musikvideo nur einen Zweck erfüllen, nämlich
Werbung für den Tonträger machen. Erst mit dem Erfolg von MTV in den USA
entwickelten sich die vermeintlichen Werbefilmchen zu einer
eigenständigen Kunstform. So manche Künstler, allen voran Madonna und
Michael Jackson, wurden erst durch die Verbindung Optik/Musik zu Stars.
Ich wurde schnell süchtig danach.
Formel Eins
und die neuen Videos von
Duran Duran
oder
Frankie Goes To Hollywood
waren in der Schule
Pausenhofgesprächsthema Nummer eins, ich bekniete meine Eltern geradezu,
sich einen Videorekorder anzuschaffen, damit ich die Sendungen
mitschneiden und die Clips archivieren konnte. 1993 waren Musikvideos
Gegenstand meiner Magisterprüfung im Fach Theaterwissenschaft/Neue
Medien, und seit 1998 moderiere ich die Dinger im Fernsehen an.
Ich gebe zu: Videos, die mich richtig wegblasen, gibt es zunehmend
weniger. Rockbands setzen vorwiegend auf öde Performance-Videos,
HipHopper auf Karren, Knarren und Weiber und Jamba auf Schnuffel.
Dennoch gibt es nach wie vor immer wieder mal echte Highlights.
An dieser Stelle bin ich mal so frei und liste meine
Top-100-Lieblingsvideos aller Zeiten auf ("for further viewing" sozusagen):
1)
Unkle feat. Thom Yorke - Rabbit In Your Headlights
(1999).
Ein Mann
wird mehrfach von Autos überfahren. Er steht immer wieder auf. Das
letzte Auto zerschellt an ihm. Die Szene eines Videos, die man nie
vergisst. Von Jonathan Glazer.
2)
Björk - All Is Full Of Love
(1999)
. Chris Cunninghams legendäres
Roboterinnen-Liebesvideo. Voll romantisch, ohne Scheiß.
3)
Johnny Cash - Hurt
(2002).
Selten war einem der Künstler in einem
Video so nah. Johnny Cash, der einsame, angsterfüllte, dem Tod geweihte,
große, würdevolle Mann. Und wenn er am Ende den Pianodeckel schließt und
mit den Händen darüber streicht, ist man spontan geneigt, eine
Gedenkminute einzulegen.
4)
Michael Jackson - Thriller
(1983).
Das erste Mal, dass ein Video eine
Art Spielfilm war. Bahnbrechend.
5)
Radiohead - Just
(1995).
Beinhaltet eines der größten Rätsel der
Videogeschichte. Was sagt der am Boden liegende Mann am Ende des Clips?
Niemand wird es je erfahren, denn sowohl die Band als auch Regisseur
Jamie Thraves hüllen sich bis heute in Stillschweigen.
6)
Aphex Twin - Come To Daddy
(1997).
Wenn das Monster die Oma
anschreit, erschrecke ich mich jedes Mal aufs Neue. Und die
mordlüsternen Kinder mit Richard D. James Gesichtern sind auch nicht
lustig. Regie Chris Cunningham.
7)
Beastie Boys - Sabotage
(1994)
. Erstklassige Parodie auf
70er-Jahre-Krimiserien. Voll banane und saulustig. Regie Spike Jonze.
8)
Squarepusher - Come On My Selector
(1998)
. In den ersten Minuten denkt man noch, dass in diesem japanischen Kinderkrankenhaus jetzt gleich etwas ganz Furchtbares passiert und dass Chris Cunnigham nun wirklich mal einen echten Horror-Film drehen sollte. Doch dann entwickelt sich der Clip rasant zu einer irren Sause, bei der die knuffigen Martial-Arts-Szenen so perfekt auf die Bleeps und Noises des kranken Squarepusher-Breakbeats geschnitten sind, wie ich das noch nie vorher gesehen habe.
9)
Björk - The Triumph Of A Heart
(2005).
Björk ist verheiratet mit einem Kater. Das Tier im Unterhemd oder am Steuer eines Autos sind unfassbare Bilder. Von Spike Jonze.
10)
Aphex Twin - Windowlicker
(1998).
Extrem verstörend, nicht nur wegen
der bärtigen Frauen. Regie Chris Cunningham.
12)
Radiohead - Street Spirit
(1995).
In verschiedenen Geschwindigkeiten gefilmt. Je öfter man es sieht, desto verstörender wird es. Von Jonathan Glazer.
13)
Peter Gabriel - Sledgehammer
(1986).
Damals Tagesgespräch, weil alle sich fragten, wie er das wohl gemacht hat.
14)
A-ha - Take On Me
(1985).
Ohne Video war der Song nichts. Mit Video war er ein Welthit. Ganz wichtiges Kapitel in der Videobibel.
15) The Prodigy - Smack My Bitch Up (1997).
Wie weit kann man gehen in einem Musikvideo? Beinhaltet eine der besten Kotz-Szenen. Von Jonas Akerlund.
16)
Daft Punk - Around The World
(1997).
Kostümierte Tänzer geben die fünf Elemente des Tracks wieder (Drumcomputer, Vocoder, Gitarre, Bass und Synthesizer). Wohl das wichtigste und beste Dance-Video. Von Michel Gondry.
17)
Joy Division - Atmosphere
(1988).
Eigentlich kein Video, sondern eine Film gewordene Beisetzung. Von Anton Corbijn.
18)
Björk - Bachelorette
(1997).
Michel Gondrys surreale Geschichte über ein Buch, das sich selbst schreibt.
20)
Chemical Brothers - Star Guitar
(2002).
Eine Symphonie aus Bildern. Kein Video ist perfekter auf den Song geschnitten. Und keiner kann das besser als Michel Gondry.