Kurzgeschichte
Amber
Amber, das ist die prototypische 19-Jährige aus Oklahoma City, die auf Austauschstudenten zukommt und "Fuck me!" sagt. Dies ist die Geschichte, wie ich sie kennen lernte.
Von Jo Schneider
Einen ganzen Abend hat der Sven auf mich eingeredet: vonwegen, dass er seine Freundin in Deutschland zwar ganz doll liebe und dass er sie niemals verlassen würde, dass ihn aber auch diese oberflächliche Sexualität der hiesigen Undergraduate-Studentinnen extrem anmache, und dass er für nichts garantieren könne, wenn bei einer Fraternity-Party spätabends die - Zitat Sven - "19-jährige Amber aus Oklahoma City" auf ihn zukäme und "Fuck me!" sagte. "Kennst du diese Amber schon irgendwoher?" habe ich ihn gefragt. "Jeder kennt Amber", hat er geantwortet, und ich habe ihm widersprochen, denn ich kenne hier bisher nur Beverly, Quinn und Mary-Anne. "Das sind auch alles Ambers", hat Sven gelacht, und das habe ich nicht verstanden.
Da hat der Sven sich eine Zigarette angezündet und gesagt "Amber ist ja eigentlich kein Name mehr, so im klassischen Sinn von ‚Zugriffsindex auf eine Informationsmenge über ein Individuum’", "Aha", habe ich gesagt. "Amber ist schon eher ein Topos", hat der Sven gesagt, "Aha", habe ich noch mal gesagt, "vielleicht sogar ein Mythos", hat er gesagt, "Aha", habe ich zum dritten Mal gesagt. "In gewisser Weise ist Amber das Gegenstück zu Zeus", hat Sven gesagt und ich habe fragend geschaut. "Zeus", hat der Sven angehoben, "ist ja der Meister der Metarmophose", hat er gesagt, und dann eine ganz charismatische Kunstpause gemacht. "Und Amber ist das Gegenteil, die Verteilung ein und derselben Persönlichkeit auf Millionen Körper, you know?"
"Du meinst: ein Klon?" habe ich da ganz entsetzt gefragt. Da hat der Sven sich zurückgelehnt und auch noch einen Joint angezündet, zusätzlich zu der Zigarette. "Eher so social cloning", hat er dann gesagt, "dieses ganze amerikanische Mittelklasseding, you know, alle gleich, alle reich, alle achso christlich und dann doch promiske Schlampen. White luxery trash, aus den little boxes made of tickytacky, und dann aufs College und Fotzelecken mit der Roommate-Schlampe und in superkurzen Nickihöschen über den Campus hopsen, mit makellosem Körper und tiefbraunen Beinen, aber einem Gesicht, aus dem schon die am Horizont heraufdämmernde Muttchenhaftigkeit rausfällt, leichter Überbiss und starkes Kinn, tief innen schon für immer frigide, vom Unterleibchen zum Weibchen, you know, ein Weibchen, dass für ihren Brad oder Brian oder Brandon, den sie sich innerhalb der nächsten drei Jahre mit und ohne Nickihöschen aus irgendeinem Fraternity-Dorm angeln wird, die nächsten Ambers heranziehen will, die Weibchen für die nächsten Brads, Brians und Brandons."
Dann ist die Sarah gekommen, die kommt auch aus Deutschland und macht hier in Yale einen Master in zentralafrikanischer Polyrhythmik, und die hat den Sven gefragt, wen oder was er denn genau mit Amber meine, weil sie mitgekriegt hat, dass der Sven meinte, dass sein "erstes amerikanisches Making-Out" auf jeden Fall mit einer "echten Amber" sein müsse. Sven hat der Sarah gesagt, dass die Amber eine ganze Bandbreite abdecken würde, von der "deutschen Jennifer bis zur deutschen Anne-Sophie, von ‚geile Schlampe in Hüfthosen’ bis ‚hohe Tochter mit Stock im Arsch und Querflöte in der Hand’, you know." Das hat der Sven gesagt und die Sarah hat etwas komisch geguckt, weil die ja selber Querflöte spielt, aber egal.
Der Sven hat einfach weitergeredet: "In Amerika wird halt alles gleichgemacht", hat er gesagt und dabei an seiner Wasserpfeife rumgebastelt, "da kannst du dich während deiner Pubertät nicht ständig hin und her entscheiden: Will ich heute eher so die morbide, verwegene Unterschichtengeilheit der Janines und Jennifers, oder pietistische Tränchen weinen, während ich die unnahbar vollkommenen zukünftigen Studienstiftlerinnen mit Namen wie Anna-Lena, Anna-Maria, Anne-Kathrin und Anne-Sophie aus der Ferne aufsauge, derweil die sich mit ihresgleichen über Emo-Bands und Greenpeace unterhalten. In Amiland gibt’s nur Amber, von vorne wie von hinten, A-M-B-E-R, von Motorhome bis eigener Pool in Beverly Hills, von sweet little sixteen bis graduating from college: fünf Millionen Mal Amber." Seine Augen haben dabei ganz komisch gefunkelt. Sarah hat verstanden, was er mit Amber meint, denn sie hat dann ein paar Vorschläge gemacht, was Amber so alles sagen könnte, wenn man mit ihr reden würde:
- ganz oft "like"
- ebenso oft "I was like …"
- auch gerne "I was like ‚OH MY GOD’"
- ständig "cute"
- oft "awesome"
- "random", wenn sie etwas nicht so gut oder gar komisch findet
- "Ewwww" [sprich: "Ijuuu!"], wenn sie ziemlich angewidert ist
- "That’s so disgusting", wenn sie richtig angewidert ist
Da ist mir dann eingefallen, dass ich die Amber ja schon getroffen hatte. Ich war vor der Bibliothek gestolpert und hingefallen und jemand hatte hinter mir "RIGHT NOW I AM LIKE ‚OH MY GOD!’" geschrien und plötzlich war sie dagestanden und hatte mir ihre Hand hingehalten. Ich war aber noch ein bisschen liegen geblieben, weil ich ihr durch die Hosenbeine auf die Leiste gucken konnte, und das fand ich irgendwie gut. "Amber?", habe ich dann geflüstert, und da hat sie "O MY GOD, HOW DO YOU KNOW MY NAME? THAT’S AWESOME!" gequiekt.
Statt auf ihre Frage zu antworten habe ich mich einfach an ihrem Arm hochgezogen und gesagt: "I’m just a graduate dirtbag, baby, listen to Iron Maiden, maybe, with me, uhuhuhu." Da hat sie gleich wieder gequiekt, "THAT’S SO CUUUTE", und sich bei mir untergehakt. Erst hab’ ich gar nicht so recht gewusst, wo ich mit ihr hingehen soll, und da habe ich sie einfach mit in das zweite Kellergeschoss der Library genommen, wo ich sowieso noch eine Formelsammlung aus dem 18. Jahrhundert ausleihen wollte.
Amber hat das da unten aber nicht so gut gefunden, "EWWW!" hat sie ganz laut gesagt, und: "THAT’S THE MOST RANDOM PLACE I’VE EVER BEEN TO." Da wollte ich sie schon ganz schnell wieder mit nach oben nehmen, aber da hat sich plötzlich ihre Miene aufgehellt und sie hat gesagt, dass "this place maybe good for making out" sei und dabei hat sie mir ganz komisch zugezwinkert. Das habe ich nicht verstanden, und da habe ich lieber schnell das Thema gewechselt. Ich hatte am Morgen in der Zeitung gelesen, dass 20 % der Amerikaner die USA nicht auf einer Weltkarte finden können. Schon den ganzen Tag hat’s mir auf der Seele gebrannt, da mal mit einem "Kultur-Insider" drüber zu reden. "Why do you think this is?" habe ich Amber mit einer ganz ernsten Stimme gefragt und die hat zunächst ganz komisch in die Ferne geschaut, mit so einem Lächeln, dass so wirkte, als ob es gleich den Kontakt zu ihrem Restgesicht verlöre, und ich hab’ schon Angst gehabt, dass ich mit dieser Frage ihre "Feelings gehurtet" hätte. Aber sie hat wohl nur wirklich lange nachgedacht und dann auch ganz ernsthaft geantwortet:
"I personally believe that U.S. Americans are unable to do so because, uhmmm, some people out there in our nation don’t have maps and uh, I believe that our, I, education like such as uh, South Africa, and uh, the Iraq, everywhere like such as, and I believe that they should, uhhh, our education over here in the US should help the US, uh, should help South Africa, it should help the Iraq and the Asian countries so we will be able to build up our future, for us."
Nachdem sie das gesagt hatte, habe ich geweint, geweint vor Rührung, weil das genau das war, was ich mir an dem Morgen selbst gedacht hatte. Nachdem ich Amber dann ganz lange nur weinend angeschaut habe, habe ich mir mit dem Zeigefinger eine Träne von der Wange genommen und sie Amber auf ihre getupft und dabei gesagt: "Amber, we are soul sisters." Aber dann ist was Komisches passiert: Amber hat mir ins Gesicht geschlagen und "THAT’S SO DISGUSTING!" geschrien und ist weggerannt. Ich weiß noch immer nicht, warum. Aber das ist vielleicht die "cultural gap", von der immer alle reden.