Die Strohhalme erscheinen in bizarren Formen, Steine und Strahlung, Pulver und Sirup. Einmal inhaliere ich direkt aus einem sehr alten Gefäß die Luft, die dereinst ein Gott bereits geatmet hat. Sie schmeckt nicht abgestandener als die der Wartezimmer. Nur haben böse Geister deren Ecken geschwärzt wie die Zigaretten mein Zuhause und die Kapillaren. Ich nehme noch einen tiefen Zug aus der Urne und atme die Asche mit ein. Mein Husten benetzt den Stein mit winzigen Blutsprenkseln.
Krebs ist die Revolution der Zelle. Sie verselbstständigt sich. Die Autoaggression beginnt bei ihrer Nichtversorgung mit Glücksgefühl. Die Hormone fließen nicht. Nun entsagt die Zelle dem System und beginnt autark zu existieren. Ich denke an Frauen, die als Kind vergewaltigt wurden. Nun zerfrisst es ihre Eierstöcke. Sie glauben nicht, dass sie es wert wären. Denke an den stillen Kerl von nebenan, der stets alles in sich hineingefressen hat und sich nicht wehrte. Seine Speiseröhre ist nicht mehr zu retten. Hätte er doch vielleicht nur einmal aufbegehrt. Hätte ich doch nur den Mut gefunden und mir die Zeit genommen, einmal tief durchzuatmen. Aber ich glaube, es hätte nichts geändert. Glaube ändert nichts. Glaube tötet und erschafft kein Leben.
Und dann erzählt mir ein alter Schauspieler, dessen Rückenmark metastasenverseucht ist und der seine Hoden bereits vor Jahren verloren hat, dass er endlich seine Lebenslüge gebeichtet hat. Dass er schwul ist und seine Frau, die unter Depressionen leidet und in deren Kleinhirn vor kurzem ein Tumor gefunden wurde, damals nur geheiratet hat, um diesen karrieristischen Makel zu vertuschen. Dass er sich seit dieser Beichte befreit fühlt. Dass die Gerinnsel sich offenbar zurückbilden. Er erstarkt wieder. Seine Frau hat über all die Jahre nie etwas in diese Richtung vermutet, sie erfährt davon aus der Zeitung. Sie hätte immer so gern ein Kind gehabt. Ihr Zustand verschlechtert sich. Als ihn die Schuld unvermittelt in ihr, in sein inneres Gefängnis zurück holt, kehren auch die Metastasen zurück. Jetzt geht alles sehr schnell: Innerhalb eines Monats sterben beide. Glaube versetzt Berge, in der Tat.
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Ich erinnere mich an die Zeit, in der mich eine erste Ahnung beschlich.
Erinnere mich an den Moment, in dem ich das erste Mal Blut hustete. Ich konnte es nicht länger leugnen. Die Gewissheit war da.
Ich erinnere mich genau an jenen Tag. An den Moment, als ich zum Arzt sagte: "Ich glaube, ich habe Krebs." Und dass ich es trotzdem nicht glauben wollte, als seine Diagnose mir recht gab.
Erinnere mich an die Zeit, in der ich darauf vertraute, dass dem Problem mit bloßer Willensstärke beizukommen sei. Leider braucht man dafür einen langen Atem, wie man so schön sagt.
Manchmal ist Glaube Fleisch gewordene Wahrheit. Als ich, kurz bevor ich dich verließ, in deine blauen Augen schaute, glaubte ich zu sehen, dass du es wüsstest. Dabei habe ich dir nichts gesagt. Ich möchte nicht, dass du mir beim Sterben zuschaust. Ich habe angst, dass dann auch etwas in dir stirbt. Und dann für sich weiterlebt. Und daran möchte ich nicht einmal denken.