Halb verhungerte Kinder in rumänischen Heimen: in den Neunzigerjahren gingen diese Bilder um die Welt. Seitdem hat sich viel getan, meint Arne Semsrott. Teil II seines Berichts aus Rumänien.
Halb verhungerte Kinder, verwahrloste Jugendliche - Anfang der Neunzigerjahre gingen die Bilder aus rumänischen Kinderheimen um die Welt. Unter der Herrschaft des Diktators Ceausescu waren die "irecuperabili", die "Irreperablen", zwar am Leben gehalten worden, eine menschenwürdige Versorgung erhielten die geistig und körperlich behinderten Kinder aber nicht.
Jetzt absolviere ich mein FSJ in einem Kinderheim in Rumänien. "Think small" war die Devise nach 1990. Deswegen leben in der Einrichtung, in der ich arbeite, nur zehn Kinder. Sie sind erst drei bis sieben Jahre alt, haben also keine Zeit in Ceausescus Heimen mehr verbringen müssen.
Unter den Augen der Betreuerinnen und der heiligen Maria an der bunten Tapete spielen die Kinder morgens, mittags und abends im Wohnzimmer, zwischendurch wird geschlafen und gegessen. Nur einige von ihnen können alleine laufen, die wenigsten mit mehr als Brabbellauten kommunizieren.
Ständig fliegen Legosteine, Dreiräder und Kuscheltiere durch den Raum, Gehversuche der Kinder an meinen Händen finden stündlich statt. Nur bei einer Gelegenheit sind die Kinder ruhig: Läuft der Staubsauger, verharren alle in ehrfürchtiger Stille.
Im Heim werden die Kinder rund um die Uhr von bis zu vier Frauen gleichzeitig gepflegt. Eine
Ausbildung haben allerdings die wenigsten Betreuerinnen. Und genau dort liegt das Problem: Da die Frauen weder von Therapieformen für behinderte Kinder noch von strukturierter Tagesgestaltung Ahnung haben und oft lieber Kaffee trinken, als mit den Kindern zu spielen, bietet der Alltag der Kleinen wenig Abwechslung – sofern sie nicht ab und zu zur Kinesiotherapie oder zum Logopäden gebracht werden. Der Leiter meiner Einrichtung macht für diesen Umstand das Budget verantwortlich: "Hätten wir mehr Geld, könnten wir mehr und besser qualifizierte Arbeitskräfte einstellen. Jetzt müssen wir aber mit dem zurechtkommen, was wir haben."
Dabei hat das Heim Glück, dass es nur zehn Kinder beherbergen muss. Manche Kinderheime aus der Kommunistenzeit existieren auch heute noch. So wie eine Einrichtung in Siret, 30 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, das ich besucht habe.
Im "casa de copii", dem Haus der Kinder, leben 150 junge und alte Menschen in einem Komplex, der mit seinen vergitterten Fronten an ein Gefängnis erinnert, stinkende Schlafräume für je 15 Insassen. Beaufsichtigt werden sie von alten Frauen in Bademänteln, die ab und zu Befehle brüllen. Dass einige der Männer hier Verletzungen am Kopf haben und die meisten Männer und Frauen ausgeprägte Formen von Hospitalismus zeigen, ist Beweis genug dafür, dass das Relikt der Ceaucescu-Ära heute eigentlich geschlossen werden müsste.
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Doch auch wenn schon viele Behinderte vom Haus der Kinder in kleinere Heime in der Umgebung überwiesen worden sind, reichen die Kapazitäten nicht aus, um das große Haus aufzulösen. Dabei sind viele Menschen in der Einrichtung in Siret nicht einmal schwer behindert und einige konnten sich bei meinem Besuch dort sogar auf Englisch mit mir unterhalten. Darunter ist ein kleinwüchsiger Mann, der sich komplett normal verhält und wie ein Fremdkörper im Haus wirkt. Mir wurde erzählt, er sei nur aufgrund seiner Wachstumsstörungen ins Heim gebracht worden.
Als ich den Leiter des Kinderheims, in dem ich arbeite, auf diese Umstände anspreche, sagt er: "Vor 20 Jahren war die Behandlung behinderter Menschen, besonders der Kinder, eine Katastrophe. Wir haben viel aufzuholen." Da hat er Recht.