Interaktiv
Einmal Rocky sein
Zu bekannten Liedern schlecht zu singen heißt Karaoke und ist ein bewährtes Konzept. Zu bekannten Filmen schlecht zu spielen ist neu.
Elise Graton
hat eine Movieoke-Veranstaltung in Berlin besucht
Manche Erfindungen lösen Revolutionen aus. Andere nicht.
Karaoke
zum Beispiel hat die Welt nicht wirklich verändert. Dass Amateure zu den Instrumentalversion bekannter Titel singen und dabei die Texte von einem Bildschirm ablesen, hat bisher noch keinen Krieg, keine Wirtschaftskrise oder ökologische Katastrophe zur Folge gehabt.
Böse Zungen behaupten, die Erfindung des Japaners Daisuke Inoue verblöde die Menschheit. Das liegt aber weniger am Prinzip von Karaoke selbst, als an der meist miesen Qualität der Musik, zu der es betrieben wird. Dass sich die Beteiligten außerdem den Mut, den das Besteigen einer Bühne erfordert, erst antrinken müssen, hebt das Niveau der Veranstaltungen auch nicht gerade. Letztlich ist es aber doch eine gute Erfahrung, die eigene Hemmschwelle zu überwinden und auf die Bühne zu gehen – egal ob man sich dort bloßstellt oder für drei Minuten das Zeug zum Weltstar beweist.
Das hat die Berliner Kunstszene verstanden. Schon im Januar 2006 lud die
Zentrale Intelligenz Agentur
zum
Powerpoint-Karaoke
ein – dort wurden zu fremden Folien Vorträge improvisiert. Seit anderthalb Jahren organisieren die
Freunde der Audiovisuellen Sozialisation
(F.A.S.)
eine eigene Variante, das so genannte Movieoke. Das Konzept ist dasselbe wie bei Karaoke. Anstelle von Liedern werden aber Filmszenen nachgespielt. Die Originale werden hinter den Darstellern auf eine Leinwand geworfen. Text und Handlung entnehmen diese zwei kleinen Fernsehern, die auf der Bühne stehen.
Ihr erstes Movieoke organisierten die Freunde für eine Premierenparty von Filmstudenten. Seitdem findet die Veranstaltung regelmäßig statt – meist in Berliner Szeneläden, manchmal aber auch bei Privatpartys. Zuletzt trafen sich Schauspielamateure und Filmfans im Berliner
Kaffee Burger
.
Um 22 Uhr soll die Veranstaltung anfangen. Um 21:40 Uhr hält sich gerade eine handvoll Menschen in der Bar auf, die Veranstalter mitgerechnet. Es sind die in Deutschland aufgewachsenen Geschwister Vera und Csongor Baranyai aus Ungarn. Wie er genau auf die Idee kam, weiß der dreißigjährige Csongor nicht mehr, vermutlich hat es aber etwas mit seinem Beruf zu tun. Er hat Filmdramaturgie in Potsdam studiert und arbeitet jetzt als Designer für Videospiele. Vera (24) ist Schauspielerin und damit die ideale Ergänzung.
Der Hintergrund der beiden erklärt auch die originelle Auswahl der ungefähr 400 Filmsequenzen, aus denen die Gästen wählen können. Sie reichen von Blockbustern über Kunstfilme bis zu Videospielen. Selbst zu einem Ausschnitt der Fußball-Weltmeisterschaft von 1990 können Freiwillige ihr schauspielerisches Talent beweisen. Vor der Bühne im noch menschenleeren Raum stehen Bistro-Tische. Auf jedem Tisch liegt ein dickes Heft, in dem die Filmszenen aufgelistet sind. Wer sich für eine Szene entscheidet, meldet sich bei Marcel, der den Abend moderieren wird.
Plötzlich ist der Raum bis in die letzte Ecke gefüllt – mehrheitlich von einem jungen, weiblichen Publikum, das aussieht, als würde es sich für den dritten Teil von
Dirty Dancing
vorstellen. Dann legen Marcel und Csongor mit einer ersten Szene aus dem Film
Tiger and Dragon
los. So wird für Uneingeweihte klar, wie Movieoke funktioniert.
Trotz verschenktem Wodka als Mutmacher geht der Abend in der ersten Stunde schleppend voran. Marcel ist gezwungen, selbst Szenen vorzuschlagen: "Wer will den Rocky spielen?" ruft er drei Mal, bis eine zierliche Frau – nicht gerade der Rocky-Typ – aufsteht, bereit ins kalte Wasser zu springen. "Film ab!" verkündet Marcel. Wie sie dann als Sylvester Stallone im Takt auf den Sandsack einschlägt, durch Washington joggt und schließlich mit ausgestreckten Armen vor dem Weißen Haus steht, übertrifft alle bisher gesehenen Parodien. Es trifft den übertriebenen Pathos von
Rocky
im Kern.
Später warten noch weitere solche "Momenten unverhoffter Schönheit", wie Marcel sie nennt, auf das Publikum: Bei
Kids
knutschen zwei Mädchen und das Publikum glotzt still. Die Szene aus
Titanic
, bei der Leonardo di Caprio sich kurz vor dem Erfrierungstod von seiner Geliebten verabschiedet, lässt das Publikum schaudern. Ein Gast traut sich sogar das Videospiel
Tetris
vorzuführen: Er spielt die fallenden Steine und jodelt dabei.
In ein paar Monaten soll die erste Movieoke-Weltmeisterschaft stattfinden. Vielleicht sollten die Macher dann Szenen auslosen. Dann hätte sogar die Filmsequenz aus
Lichtspiel Opus 1
von Walter Ruttmann aus dem Jahr 1921 eine Chance – das erste abstrakte Werk der Filmgeschichte und ein absoluter Ladenhüter auf der Liste der Movieoke-Veranstalter.
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