Wie funktioniert eine Beziehung, in der ein Partner Aids hat? Der Comic
Blaue Pillen
von Frederik Peeters erzählt diese Geschichte.
Von Jan-Frederik Bandel
Keine zweite Krankheit ist so sehr von Halbwissen, Gerüchten, Mythen und Verschwörungstheorien umgeben wie Aids. Als die Immunschwächekrankheit in den achtziger Jahren bekannt wurde, löste sie Wellen der Hysterie und Angst aus. Vor allem männliche Homosexuelle waren der aufgebrachten Öffentlichkeit verdächtig. Aber auch die sexuelle Liberalität, die in den rebellischen sechziger Jahren eingeleitet wurde, geriet plötzlich unter Beschuss. Rückblickend ist von einer "Bedeutungsepidemie" die Rede, die durch Aids ausgelöst wurde. Es war, so schien es, eine geradezu apokalyptische Krankheit, die genau in die Endzeitstimmung der letzten 15 Jahre des vergangenen Jahrhunderts passte.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Obwohl Aids nach wie vor nicht heilbar ist, sterben dank neuer Therapieformen in den Wohlstandsländern nur noch wenige Menschen an den Folgen einer HIV-Infektion. Ganz anders in den Ländern der so genannten "Dritten Welt". Viele Europäer verbinden Aids nur noch mit Afrika: Es ist eine Krankheit der anderen. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass die Wahrnehmung der Infektionsgefahr gerade bei Jugendlichen immer mehr schwindet – ungeachtet aller längst ritualisierten Aufklärungsprogramme und Kampagnen. Dabei ist die Zahl der Neuinfizierten auch in Deutschland in vorigen Jahren wieder gestiegen.
Ein Grund mehr, Frederik Peeters’ Comic
Blaue Pillen
, der gerade bei
Reprodukt
erschienen ist, viele Leser zu wünschen. Das fast 200 Seiten starke Buch kommt in Form einer autobiografischen Erzählung daher: Peeters alter ego Fred schildert die Begegnung mit Cati, das Zusammenleben mit ihr und ihrem dreijährigen Sohn aus früherer Ehe, beide sind HIV-positiv. Wie funktioniert das eigentlich: eine Beziehung, in der ein Partner Aids hat? Wie sagt man es den Freunden und Verwandten? Wie reagieren die? Und was bedeutet es für ein kleines Kind, sich in die unerbittliche Maschinerie einer Therapie zu begeben? Sich keine Sorglosigkeit erlauben zu können? Und dennoch krank zu bleiben bis an sein Lebensende?
Was Peeters’ Comic auszeichnet, ist seine bedrückende Intensität. So liebevoll sein Blick auf Cati und ihren Sohn ist, so gnadenlos beobachtet er sich selbst, die seltsame Mixtur extremer Gefühle, in die ihn seine Liebe stürzt. Zu Beginn ihrer Beziehung, als Cati ihm von ihrer Erkrankung erzählt, wirbeln die Worte durch die Bilder: Leidenschaft, Mitleid, Lust, Abscheu, Bestrafung, Verlangen, Flucht, Ekel, Traurigkeit. Mit der Traurigkeit klingt der Sturm aus. Doch die Selbstbefragung zieht sich durch den gesamten Comic: "Gibt es einen unguten Zusammenhang zwischen ihrer Krankheit und meinem Begehren? Unbewusste Selbstzerstörung?"
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Verstärkt wird die Intensität der Erzählung durch Peeters’ expressiven Zeichenstil. So unaufdringlich seine Zeichnungen mit ihren starken Kontrasten sind, so souverän nutzt er die Möglichkeit, die Physiognomie seiner Figuren zu verzerren. Catis Augen z.B. nehmen fast die Hälfte ihres Gesichts ein. Mal scheinen sie zu strahlen und nichts als die hingerissene Verliebtheit widerzuspiegeln, von der der Comic erzählt. Dann scheinen sie plötzlich aus einem eingefallenen, verknöcherten Gesicht zu blicken. Dazwischen liegen nur wenige vorsichtige Striche, die den Strudel widersprüchlicher Momente und Gefühle umso wirkungsvoller ins Bild setzen.
Der Comic liest sich wie ein rauschartiger Versuch, sich selbst klar zu werden über die Widersprüche und Schönheiten einer Beziehung – und Peeters bestätigt, dass er ihn in nur drei Monaten gezeichnet hat. Doch die Komplexität der Erzählung hat unter dieser Eile nicht gelitten: In einer verschachtelten Zeitkonstruktion werden Momentaufnahmen, Fantasien, Reflexionen verknüpft. Eingelassen in die autobiografische Erzählung sind teils kurze, teils mehrseitige Fantasiesequenzen wie die lange Unterhaltung mit einem etwas geschwätzigen, aber scharfsinnigen Mammut, das Fred hart in die Mangel nimmt.
"Man leidet psychisch", versucht Fred dem Mammut die Krankheit zu erklären: "Man leidet am Paradox! Es ist eine körperliche Krankheit, die an das Unantastbarste des Menschen rührt... die Liebe... Sie produziert Liebesbehinderte!" Es ist Peeters’ Kunststück, zugleich dieses Leiden und eine intensive Liebesbeziehung darzustellen: "Ich weiß, dass diese Beziehung über alle vorherigen hinausgeht, weil sie lebt, uns trägt, weil sie uns ihren unvorhersehbaren Rhythmus aufzwingt ohne nachzulassen." Und doch beschränkt sich seine Erzählung keineswegs auf die Momente, die direkt mit der Krankheit verbunden sind. Viele Unsicherheiten und Fremdheiten sind einfach die einer neuen Beziehung – und der ersten Annäherung an die Welt und Reaktionen eines Kindes. Das rettet Peeters’ Figuren vor schematischer Einfachheit: Es geht nicht um zwei Aidskranke, es geht um Cati und ihren Sohn.
Zwar ist es streckenweise strapaziös, den sich immer weiter nach innen schraubenden Selbsterforschungen Peeters’ zu folgen. Doch Anstrengung lohnt sich, denn dieser Einblick in die kleine Welt dieser Krankheit wischt die gängigen Betroffenheitsfloskeln und Vorurteile einfach weg. "Für mich", schreibt Peeters, "hatten sich die Tore zu einer ungeahnten Welt geöffnet, fern der gesellschaftlichen Klischees, der Skandalgeschichten und der voreiligen Verurteilungen."
Blaue Pillen
ist kein pädagogisch wertvoller Aufklärungscomic.
Keine zweite Krankheit ist so sehr von Halbwissen, Gerüchten, Mythen und Verschwörungstheorien umgeben wie Aids. Als die Immunschwächekrankheit in den achtziger Jahren bekannt wurde, löste sie Wellen der Hysterie und Angst aus. Vor allem männliche Homosexuelle waren der aufgebrachten Öffentlichkeit verdächtig. Aber auch die sexuelle Liberalität, die in den rebellischen sechziger Jahren eingeleitet wurde, geriet plötzlich unter Beschuss. Rückblickend ist von einer "Bedeutungsepidemie" die Rede, die durch Aids ausgelöst wurde. Es war, so schien es, eine geradezu apokalyptische Krankheit, die genau in die Endzeitstimmung der letzten 15 Jahre des vergangenen Jahrhunderts passte.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Obwohl Aids nach wie vor nicht heilbar ist, sterben dank neuer Therapieformen in den Wohlstandsländern nur noch wenige Menschen an den Folgen einer HIV-Infektion. Ganz anders in den Ländern der so genannten "Dritten Welt". Viele Europäer verbinden Aids nur noch mit Afrika: Es ist eine Krankheit der anderen. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass die Wahrnehmung der Infektionsgefahr gerade bei Jugendlichen immer mehr schwindet – ungeachtet aller längst ritualisierten Aufklärungsprogramme und Kampagnen. Dabei ist die Zahl der Neuinfizierten auch in Deutschland in vorigen Jahren wieder gestiegen.
Ein Grund mehr, Frederik Peeters’ Comic
Blaue Pillen
, der gerade bei
Reprodukt
erschienen ist, viele Leser zu wünschen. Das fast 200 Seiten starke Buch kommt in Form einer autobiografischen Erzählung daher: Peeters alter ego Fred schildert die Begegnung mit Cati, das Zusammenleben mit ihr und ihrem dreijährigen Sohn aus früherer Ehe, beide sind HIV-positiv. Wie funktioniert das eigentlich: eine Beziehung, in der ein Partner Aids hat? Wie sagt man es den Freunden und Verwandten? Wie reagieren die? Und was bedeutet es für ein kleines Kind, sich in die unerbittliche Maschinerie einer Therapie zu begeben? Sich keine Sorglosigkeit erlauben zu können? Und dennoch krank zu bleiben bis an sein Lebensende?
Was Peeters’ Comic auszeichnet, ist seine bedrückende Intensität. So liebevoll sein Blick auf Cati und ihren Sohn ist, so gnadenlos beobachtet er sich selbst, die seltsame Mixtur extremer Gefühle, in die ihn seine Liebe stürzt. Zu Beginn ihrer Beziehung, als Cati ihm von ihrer Erkrankung erzählt, wirbeln die Worte durch die Bilder: Leidenschaft, Mitleid, Lust, Abscheu, Bestrafung, Verlangen, Flucht, Ekel, Traurigkeit. Mit der Traurigkeit klingt der Sturm aus. Doch die Selbstbefragung zieht sich durch den gesamten Comic: "Gibt es einen unguten Zusammenhang zwischen ihrer Krankheit und meinem Begehren? Unbewusste Selbstzerstörung?"
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Verstärkt wird die Intensität der Erzählung durch Peeters’ expressiven Zeichenstil. So unaufdringlich seine Zeichnungen mit ihren starken Kontrasten sind, so souverän nutzt er die Möglichkeit, die Physiognomie seiner Figuren zu verzerren. Catis Augen z.B. nehmen fast die Hälfte ihres Gesichts ein. Mal scheinen sie zu strahlen und nichts als die hingerissene Verliebtheit widerzuspiegeln, von der der Comic erzählt. Dann scheinen sie plötzlich aus einem eingefallenen, verknöcherten Gesicht zu blicken. Dazwischen liegen nur wenige vorsichtige Striche, die den Strudel widersprüchlicher Momente und Gefühle umso wirkungsvoller ins Bild setzen.
Der Comic liest sich wie ein rauschartiger Versuch, sich selbst klar zu werden über die Widersprüche und Schönheiten einer Beziehung – und Peeters bestätigt, dass er ihn in nur drei Monaten gezeichnet hat. Doch die Komplexität der Erzählung hat unter dieser Eile nicht gelitten: In einer verschachtelten Zeitkonstruktion werden Momentaufnahmen, Fantasien, Reflexionen verknüpft. Eingelassen in die autobiografische Erzählung sind teils kurze, teils mehrseitige Fantasiesequenzen wie die lange Unterhaltung mit einem etwas geschwätzigen, aber scharfsinnigen Mammut, das Fred hart in die Mangel nimmt.
"Man leidet psychisch", versucht Fred dem Mammut die Krankheit zu erklären: "Man leidet am Paradox! Es ist eine körperliche Krankheit, die an das Unantastbarste des Menschen rührt... die Liebe... Sie produziert Liebesbehinderte!" Es ist Peeters’ Kunststück, zugleich dieses Leiden und eine intensive Liebesbeziehung darzustellen: "Ich weiß, dass diese Beziehung über alle vorherigen hinausgeht, weil sie lebt, uns trägt, weil sie uns ihren unvorhersehbaren Rhythmus aufzwingt ohne nachzulassen." Und doch beschränkt sich seine Erzählung keineswegs auf die Momente, die direkt mit der Krankheit verbunden sind. Viele Unsicherheiten und Fremdheiten sind einfach die einer neuen Beziehung – und der ersten Annäherung an die Welt und Reaktionen eines Kindes. Das rettet Peeters’ Figuren vor schematischer Einfachheit: Es geht nicht um zwei Aidskranke, es geht um Cati und ihren Sohn.
Zwar ist es streckenweise strapaziös, den sich immer weiter nach innen schraubenden Selbsterforschungen Peeters’ zu folgen. Doch Anstrengung lohnt sich, denn dieser Einblick in die kleine Welt dieser Krankheit wischt die gängigen Betroffenheitsfloskeln und Vorurteile einfach weg. "Für mich", schreibt Peeters, "hatten sich die Tore zu einer ungeahnten Welt geöffnet, fern der gesellschaftlichen Klischees, der Skandalgeschichten und der voreiligen Verurteilungen."
Blaue Pillen
ist kein pädagogisch wertvoller Aufklärungscomic.