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Brasilien

Experiment misslungen

Der Traum vom vollkommenen Leben, in Beton gegossen: Vor 50 Jahren wurde die brasilianische Hauptstadt Brasilia aus dem Nichts erschaffen. Heute ist sie das Denkmal einer Utopie.

Der Traum vom fernen Utopia ist fast so alt wie die Menschheit. Vor einem halben Jahrhundert hat eine brasilianische Regierung ihre Vision von der makellosen Stadt einfach aus dem Boden gestampft. Im Nirgendwo, 1000 Kilometer von der brasilianischen Küste entfernt, wurde mit Baggern und Kränen ein Traum gebaut.

Präsident Juscelino Kubitschek hatte beschlossen, dem Land, das mit Wirtschaftskrise und kolonialer Vergangenheit zu kämpfen hatte, ein Vorbild zu errichten. Brasilien, das sollte alle Welt hier erfahren, steht an der Spitze des Fortschritts. Er beauftragte die Architekten Lúcio Costa und Oscar Niemeyer . In nur 4 Jahren war die neue Hauptstadt fertig zur Besiedlung.

„Zu Fuß kann man sich hier eigentlich gar nicht bewegen,“ sagt heute Architektin Liliana Gómez über die Utopiestadt. „Die Entfernungen schon zwischen einzelnen Gebäuden sind viel zu groß, es gibt kaum Schatten. Man sieht deshalb kaum Fußgänger auf der Straße.“ Dass sich noch irgendjemand zu Fuß fortbewegen würde, war im utopischen Plan für Brasilia nicht vorgesehen.

Brasilia sollte frei sein von der Zufälligkeit, dem Chaos und dem Schmutz der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro oder der Metropole Sao Paulo. Brasilia sollte anders sein, klar und funktional. Das Symbol dafür ist der Grundriss der Stadt , der die Form eines Flugzeugs hat: Eine gigantische sechsspurige Strasse mit einem breiten Grünstreifen in der Mitte zieht sich als Hauptachse durch die Stadt, an der Stelle des „Cockpits“ befinden sich die Regierungsgebäude und Ministerien, die „Flügel“ sind mit Wohnbezirken, Hotels und Einkaufszentren bebaut.

Diese erinnern fatal an die Plattenbauten in europäischen Vorstädten. Viel Platz, wenig Schatten, weite Entfernungen. Die Straßen und Gebäude haben keine Namen, sondern sind mit Buchstaben und Zahlen bezeichnet. Menschen wirken hier fehl am Platz. „Das Experiment“, sagt Liliana, „ist misslungen. Brasilia hat die sozialen Probleme nicht gelöst, das Zentrum ist eine tote Beamtenstadt, außer Regierungsangestellten will keiner hier wohnen.“

Das Leben der meisten der rund 2,3 Millionen Einwohner fängt da an, wo der Plan der Architekten aufhört. Rund um das Zentrum der eigentlichen Stadt ist in den letzten 50 Jahren ein Gürtel aus Satellitenstädten und Elendsvierteln entstanden. „Das ist das reale Brasilia,“ sagt Liliana, „die zweite Stadt, wo die gleichen Probleme an der Tagesordnung sind wie in den alten Metropolen des Landes.“ Arbeitslosigkeit, Gewalt, Drogen, Armut. Liliana traut sich nicht allein in die Außenbezirke. Höchstens mit dem Auto könne man da mal durchfahren.

„Das Kern-Brasilia ist langweilig,“ erzählt Liliana. „Das Leben spielt sich nicht auf der Straße ab, es gibt keine gewachsenen städtischen Strukturen und es fehlt der Charme einer lokalen Kultur.“ Schon 1960, als das Land seine neue Hauptstadt einweihte und Regierung und Verwaltung aus Rio nach Brasilia verlegte, murrten die Staatsbeamten, die dort hinziehen mussten. Wer wollte schon gern das Strandflair von Rio gegen die Betonstadt im Landesinneren tauschen?

Trotzdem ist Liliana von der Stadt fasziniert. „Die Weite und Größe dieses Experiments ist beeindruckend.“ Nicht umsonst hat die UNESCO die Stadt zum Weltkulturerbe erklärt. Die Stadt steht für die Bombastik der vergangenen Fortschrittserwartungen. Der heute 98-jährige Architekt Oscar Niemeyer war Kommunist und wollte eine bessere Gesellschaft schaffen: mit Hilfe von sozialem Wohnungsbau und avantgardistischer Urbanisierung. Heute fährt das Mobil der Kampagne „fome zero“ – „kein Hunger“ auch durch Brasilia. Ein bizarrer Kontrast, sagt Liliana. „Nur eine komplette Ausblendung der brasilianischen Realität konnte zu diesem Projekt führen.“

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