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ARBEIT

"Wir wollen die Jugend verderben"

TEIL 2

Für wen taugt dieser Lebensentwurf der digitalen Bohème und für wen nicht?

S.L.: Für diejenigen, die im weitesten Sinne kreativ arbeiten, als Journalisten, Fotografen oder Designer. Die sind als Freiberufler besser aufgehoben als in starren Firmenstrukturen. Auch der Einzelhandel und kleine Manufakturen können davon profitieren. Es gibt aber auch Berufsgruppen, die keine kreative Arbeit verrichten und trotzdem zur digitalen Bohème gehören, private Ebay-Powerseller beispielsweise.
Im Straßenbau oder bei der Altenpflege hat das Modell hingegen nichts zu suchen. Ich würde zum Beispiel ungern über eine Autobahnbrücke fahren, die von freiberuflichen Beton-Designern zusammendiskutiert wurde.

Der Übergang von der digitalen Bohème zur Unterschicht ist fließend.

S.L.: Es stimmt, dass bei diesem Modell mehr Leute am Existenzminimum rumkrebsen als anderswo. Dafür tun sie aber etwas, das ihnen Freude bereitet und nehmen deshalb ein geringeres Einkommen in Kauf.

H.F.: Um den Spieß mit den vielen sinnlosen, unbezahlten Praktika einmal herumzudrehen und auf die Spitze zu treiben: Wo ich mein vieles Geld letztlich nicht verdiene, ist eigentlich egal. Dann lieber das machen, was einen interessiert.

S.L.: Das soll jetzt nicht zynisch klingen, aber es hat auch Vorteile zu wissen wie es ist, vier Wochen lang von nur 20 Euro zu leben. Das darf nur nicht zum Dauerzustand werden.

Man bewegt sich da auf einem sehr schmalen Grat zwischen Selbstausbeutung und -verwirklichung.

H.F.: Ich sage immer: Ich beute mich lieber selber aus, als das es ein anderer tut.

S.L.: Ich ahne was du meinst sage aber: Wenn du eine Arbeit ausübst, die du wirklich liebst, ist Selbstausbeutung schlichtweg das falsche Wort dafür.

Hat dieser Lebensentwurf, so verlockend er klingen mag, nicht irgendwann ein Verfallsdatum? Stichwort Familie.

H.F.: Paradebeispiel hierfür ist unser Grafiker mit zwei Kindern. Wenn die krank werden, ist es für ihn viel leichter, sich vier Tage krank zu melden, als in einer Firma, in der er ein Attest braucht. Diese flexiblen Strukturen sind  viel humaner als ein geregeltes Arbeitsleben.

S.L.: Der Angestellten-Modus duldet keine Abweichungen. Siehe das Elterngeld, das nur an Festangestellte verteilt wird. Oder Stichwort Kindergarten. Die Öffnungszeiten der meisten sind auf den Rhythmus von Nine-To-Five-Jobs ausgerichtet. Durch dieses Raster fällt nicht nur das Gros der digitalen Bohème, die ihre Kinder lieber um 17 Uhr abgeben und um 23 Uhr wieder abholen würden, sondern auch jeder gewöhnliche Schichtarbeiter. An dieser Stelle wäre aber auch ein starker Staat gefordert, der es möglich macht, neue Modelle von Arbeit und Beschäftigung zu realisieren.

Was sagt ihr denen, die euch Zwangsoptimismus und Romantisierung prekärer Lebensverhältnisse vorwerfen?

H.F.: Wir haben einfach eine andere Ausfahrt aus der Prekariats-Diskussion genommen. Natürlich gibt es Momente, in denen es sich schlecht anfühlt, aber die sind immerhin noch besser als das Gefühl, 40 Jahre lang in die gleiche Firma gehen zu müssen...

S.L.: ...nur um dann entlassen zu werden. Außerdem halte ich Zwangsoptimismus an dieser Stelle für das falsche Wort. Nur weil wir nicht sagen, dass alles scheiße ist, darf man uns nicht für realitätsferne Spinner halten. Auch wenn auf dem Arbeitsmarkt schlechte Stimmung herrscht, heißt das nicht, dass es in allen Bereichen schlecht laufen muss. Die Situation ist nicht so ausweglos, wie sie scheint. Das Gegenteil zu behaupten, halte ich eher für Zwangspessimismus.

Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung von Holm Friebe und Sascha Lobo ist bei Heyne erschienen (17,95 Euro).

Auch schön:

Digitale Bohéme - So sieht sie aus. Eine Bildergalerie

Wir nennen es Arbeit - Webseite und Blog zum Buch

Drüber reden? - Dieser Artikel wird hier im Forum diskutiert

Nach Hause - Zuender. Das Netzmagazin


 
 



 

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