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Quelltexte

Zuckerbrot und Peitsche

TEIL 2

Mich verblüffte die Tiefe, in die Thomas Mann mit nur wenigen Worten vorstieß. Die Tatsache, dass Gerda Johannes fertig machen kann, macht sie nicht stark, sie ist keine selbstbewusste Peitschen-Schwingerin – sie ist eine Leidensgenossin vom kleinen Herrn Friedemann. Während er körperlich entstellt ist, leidet sie unter einer ebenso starken Deformation – aber nicht äußerlich, sondern innerlich. Zwischen den Zeilen ist deutlich herauszufühlen, wie gerne sie unbewusst ihr Dasein einer grundlegenden Veränderung unterziehen würde und doch selbst ihr größtes Hindernis ist. Dass sie nicht imstande ist, für sich zu sorgen, im Augenblick zu leben, Glück zu verspüren. So ist sie ähnlich in sich eingesperrt, wie Johannes. Der jedoch führt ihr vor, dass es möglich ist, aus der Not eine Tugend zu machen. Dass es möglich ist, im Augenblick zu leben, seine Schönheit zu genießen, obwohl man Defizite hat. All das lässt Gerda einen unbändigen Hass verspüren auf Friedemann, der ihr vorgaukeln will, das Leben wäre schön. Und auf ihr inneres Unvermögen, ihre Unzulänglichkeit, die sie nun am kleinen Herrn Friedemann äußerlich wiederentdeckt.

Die Konfrontation mit Friedemanns lebensbejahender Einstellung lässt Gerdas Drang, ihren Selbsthass auszuleben so übermächtig werden, dass sie nicht eher ruht, bis sie den kleinen Herrn Friedemann vom Gegenteil überzeugt hat. Dessen Scheinwelt wiederum ist so zerbrechlich, seine labile Persönlichkeit mit ihren unausgelebten Trieben so angreifbar, dass Friedemann Gerdas Schwäche in Stärke uminterpretiert, ihren Spott als Wahrheit begreift – und sich schließlich umbringt.

Ich bin nicht körperlich gezeichnet, wie der kleine Friedemann. Das Buch hat mir aber dabei geholfen, eine menschliche Schieflage zu durchschauen. Ich bastelte daraus eine Hausarbeit, habe den Schein diesmal wirklich nicht bekommen und anschließend den Prof gewechselt. Wie hat doch Thomas Mann selbst über seine fiktive Gerda so schön gesagt? "Sie ist eine Leidende, eine problematische Natur". Und ganz sicher eine Persönlichkeit, die abhängiger von ihrem Opfer ist, als dieses von ihr. Hätte sich der kleine Herr Friedemann nicht so blenden lassen – vielleicht hätte er eine ähnlich geartete Erfahrung gemacht, wie ich unmittelbar nach meiner Magisterprüfung. Da stand überraschend mein Psycho-Prof vor mir, um zu gratulieren: "Falls Sie promovieren wollen, betreue ich Sie übrigens gerne!" Ich lächelte und sagte Adieu. Und freute mich über die literarische Lehre fürs Leben.

Auch schön:

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