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45 Jahre Mauerbau

Allein unter Deutschen

In Bonn geboren, in Dresden aufgewachsen: Clara Boie geht weder als Ossi noch als Wessi durch.

Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, habe ich jedes Mal eine neue Variante meiner Lebensgeschichte parat. Ich frage mich dann, ob ich die lange Version erzählen soll oder es lieber kurz halte. Meistens mache ich die Antwort von meinem Gegenüber abhängig – ist es Ossi oder Wessi?

Zunächst zu meiner Lebensgeschichte: Ich bin in Bonn geboren und habe da insgesamt sieben Jahre gelebt – mit einer Unterbrechung von zweieinhalb Jahren in Washington D. C. Nach der Wende, als ich zehn Jahre alt war, haben meine Familie und ich aber in die "falsche" Richtung "rübergemacht" – so sagen es zumindest Wessis, wenn sie eine witzige Bemerkung zu meiner Biographie machen wollen. Wir zogen nach Dresden, einer Stadt, die mich im Alter von zehn Jahren auf dem Fahrrad über tausend Schlaglöcher fahrend zu der Aussage zwang: "Wir müssen die Entwicklungshilfe abschaffen. Das Geld muss in die Scheißstraßen gesteckt werden."

Kurze Zeit nach meinem Umzug in den Osten besuchte ich meine Verwandtschaft in Bonn. In einem Supermarkt hörte ich eine Kassiererin schreien: "Sollen sie doch die Mauer wieder aufbauen, am besten noch drei Meter höher, der Lafontaine hat doch mit allem Recht!" Mit Panik dachte ich daran, nun da drüben eingesperrt wohnen zu müssen und nicht mehr nach Hause, geschweige denn irgendwo anders hinfahren zu können.

In Dresden hatte ich meinen ersten Kuss – mit einem Jungen, der einen Trabbi fuhr, ich habe dort meinen ersten Rausch ausgeschlafen, meine erste CD gekauft und schließlich auch mein Abitur gemacht. Meine Schule war übersät von Wessis, wir haben da die Ausländerquote in die Höhe getrieben. Aber ich habe mich wohl gefühlt; anders zwar, aber nicht einsam oder fremd.

Dennoch wollte ich nach der Schule nur eins: zurück in den Westen, in meine Heimat. Dass es meine Heimat sei, da war ich mir sicher. So wurde es mir als Wessi im Osten schließlich immer vermittelt.

Die ZVS schickte mich in ein kleines Nest tief im Westen, Osnabrück, das war 1999. Anfangs erzählte ich dort noch unvermittelt, dass ich aus Dresden sei. Kaum ausgesprochen, starrte ich in fassungslos aufgerissene Wessi-Augen. Nach ein paar Sekunden der Besinnung kam dann immer der Spruch: "Aber du sprichst ja gar nicht so!?!" – "Nein, ich bin auch in Bonn geboren", sagte ich dann. Und schon stellte man mir mit Erleichterung ein neues Bier zum Anstoßen und Mitfeiern hin.

Ich stellte fest, dass die meisten selbst nach so vielen Jahren der Wiedervereinigung noch nie im Osten gewesen sind. Manche kannten Berlin, vielleicht waren sie da mal aus Versehen auf die "andere" Seite gekommen. Andere hatten auf Klassenfahrten Weimar besucht, "aber nur Skinheads gesehen".

Ich habe in der Zeit eine unglaubliche Wut gegenüber einigen Wessis entwickelt. "Was für Ignoranten!", dachte ich oft. Meiner Meinung nach zu Recht, wenn man bedenkt, dass mir ernsthaft Fragen gestellt wurden wie "Habt ihr da eigentlich Kinos?" Ich fühlte mich diesen Leuten einfach nicht zugehörig. Musste ich wirklich einer von denen sein?

Ich fragte mich oft, wo eigentlich meine Heimat sei, wohin ich gehöre, woher ich komme. Zu meiner Schulzeit waren es die Ossis, die behaupteten, dass unsere Eltern nur in der ehemaligen DDR seien, um schnelles Geld zu machen und wir die "scheiß neureichen Wessi-Kinder" seien.

Nur ist es so: Fahre ich nach Bonn, wüsste ich nicht, wie ich von der Innenstadt zu unserem alten Haus käme – das auch gar nicht mehr steht. Rollt der Zug dagegen in Dresden ein, geht mir das Herz auf. Ich verspüre schon in Radeberg ein Sehnsuchtsgefühl und eine Vorfreude auf diese Stadt, wie ich es an keinem anderen Ort fühle. Aber ist Dresden deswegen meine Heimatstadt?

Wikipedia sagt, Heimat ist da, "wo man sich nicht zu erklären braucht". Und ich habe das Gefühl, mich gerade im Westen immer noch erklären zu müssen.

Dabei sind wir doch die Generation, die nicht den Mauerbau, sondern deren Fall miterlebt hat. Wir müssten doch nach unseren Eltern die ersten sein, die kein Problem mehr mit "Ost" oder "West" haben. Stattdessen scheint es, als könnten wir uns nur entweder zu Ost oder zu West bekennen. Wieso eigentlich?

Weiterlesen im 2. Teil »


 
 



 

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