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Mutismus

Nicole will nicht länger schweigen

Nicole Plück (26) leidet unter selektivem Mutismus: einer Angststörung, die sie in fremden Umgebungen krankhaft verstummen lässt. Für den Zuender hat die Duisburgerin ihr Schweigen gebrochen

Wo sitzt dein Stress? Wenn du ein Körperteil benennen müsstest, in dem der Stress sitzt, welches Körperteil wäre das? Nicole gibt keine Antwort. Ihr Schweigen hängt grau und schwer in der Luft, sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Nestelt mit den Fingern unter der Tischkante. Klammert sich mit ihren Augen an Dr. Boris Hartmann fest, ihrem Sprachtherapeuten, der ihr gegenüber sitzt. Braune Augen, die jetzt zu mir herüber wandern. Minuten verstreichen. Stille. Stille. Da: ein Ruck, ein Räuspern gehen durch Nicole. „Kopf“, sie stößt das Wort hervor. Der Stress, den Sprechen für sie bedeutet, der sitzt in ihrem Kopf. So viele Gedanken dort, die sich vor die Wörter wälzen, die alle erst zur Seite zu räumen, bevor ein Wort raus kann, das erfordert so viel Kraft. Nicole guckt auf ihre Hände.

Ein hübsche junge Frau mit braunen Locken, rehgroßen Augen, mit langen, dichten, gebogenen Wimpern: das ist Nicole Plück, 26 Jahre jung, geboren in Duisburg im Ruhrgebiet. Seit sie denken kann, leidet Nicole unter selektivem Mutismus. „Eine komplexe Angst- und Verhaltensstörung, die durch die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, in spezifischen sozialen Situationen oder gegenüber einem bestimmten Personenkreis zu sprechen“, informiert der Kölner Verein „Mutismus Selbsthilfe Deutschland“. Im Gegensatz zum „totalen Mutismus“, dem totalen Schweigen also, das meist „in Verbindung mit Schockerlebnissen oder in Kombination mit psychiatrischen Grunderkrankungen“ auftrete, gebe es für den selektiven Mutismus keinen plötzlichen Auslöser. „Die Betroffenen können in Umgebungen, in denen sie sich sicher und entspannt fühlen, unbeschwert sprechen“, sagt Dr. Hartmann. Im Gegensatz zu autistischen Menschen, die nur eingeschränkt sprachliche Fähigkeiten erwerben und überhaupt nicht in der Lage sind, Beziehungen zu ihrer Außenwelt aufzubauen. Mutisten könnten das schon. Wäre da nicht diese Angst. Eine irreale Furcht vor nicht greifbarer „Blamage“, sagt Nicole, Angst vor irgendwelchen potentiellen „schlechten Kommentaren“ über sich.

Die Angst ist wie eine unsichtbare Schleppe

Wir sitzen in der Praxis des Kölner Sprachtherapeuten Boris Hartmann (42). Den kennt Nicole, seit August 2005 ist sie bei ihm in Behandlung. Mich aber kennt Nicole nicht. Seit ich im Raum bin, ist das vertraute Therapiezimmer mit einem Schlag wieder fremd geworden. Trotzdem hat Nicole sich bereit erklärt für unsere Geschichte. Ein Schritt, der Löwenmut erfordert. Schon beim Hereinkommen zieht Nicole die Angst wie eine unsichtbare Schleppe hinter sich her, die all ihre Bewegungen verlangsamt. Wie in Zeitlupe hat die 26-Jährige eben die Türklinke niedergedrückt, ist zögernd in den Raum getappt, die Augen geheftet an Hartmann.

Der bleibt entspannt. „Sie würden es nicht glauben, wenn Nicole gleich wieder zurückfährt nach Duisburg: Ich bin mir sicher, dass sie dann ganz unbefangen mit ihrer Oma plaudern wird.“ Bei der 75-jährigen Frau lebt Nicole, seit sie auf der Welt ist, ebenso wie bei ihrem Opa (74). Ihre Mutter starb nach Nicoles Geburt an Nierenversagen. Ihr Vater, ein Staplerfahrer aus Duisburg, kümmerte sich nicht um seine Tochter, auch heute mit 59 Jahren nicht. Schon im Kindergarten war Nicole in sich gekehrt, in der Grundschule dann so still, dass eine Lehrerin ihre Oma alarmierte. Es gab zwei kurze Therapieansätze im Schulalter, die im Sande verliefen, den Mutismus bestenfalls streiften. Eine Zeit der Zurückgezogenheit folgte. Auch was soziale Kontakte betraf. Wie oft warst du auf Kindergeburtstagen? „Nicht oft“, das Mädchen spricht dünn und leise. Schickt kurze, knappe Antworten über die Lippen, viele bestehen nur aus einem Wort, angeschoben von einem Räuspern. Auf Geburtstagsfeiern war Nicole ebenso wenig, wie auf anderen Partys, sie wurde nicht eingeladen, „die... wussten ja... dass ich... von alleine... nicht komme...“

„Ich habe eingehalten, bis ich wieder zu Hause war“

Die Schule, Hauptschule, danach Handelsschule, hat Nicole vor acht Jahren abgebrochen. Ohne Abschluss. Warum? Schweigen wie Blei, dann ein Ruck, ein Räuspern, „...zu schwer“, das Mädchen hebt die Schultern. Aber nein, Nicole war nicht etwa zu dumm. Die Noten waren schlecht, weil sie nicht am Unterricht teilnahm, „... nur... wenn die... mich drangenommen... haben“. Sich von selber zu melden, das hatte so Angst gemacht. Also hat Nicole ihren Großeltern lieber in Haushalt und Garten geholfen. Acht lange Jahre alleine in ihrer Welt, die sich von den Interessen her nicht unterscheidet von der anderer junger Mädchen. Musik von HIM hören, „Right Here In My Arms“ ist ihr Lieblingssong. Oder lesen, „Die weiße Massai“, ihr Lieblingsbuch von Corinne Hofmann. Kleine Fluchten aus einem Alltag, den Nicole von selber nicht bewältigen kann.

Keine Gänge in den Supermarkt – spätestens an der Kasse müsste Nicole sprechen. Keine Besuche im Kino, „hab niemanden... der mitgeht“. Alleine ginge auch nicht, Nicole schüttelt den Kopf, „... die Kinokarte“: nach der müsste sie ja fragen, die müsste sie ja kaufen. Und selbst wenn sie eine geschenkt bekäme, könnte es immer noch passieren, dass sie sich nicht auskennt, nach dem Saal, der Toilette fragen müsste. Das Problem mit der Toilette hat Nicole schon immer auf ihre Weise gelöst. Irgendwann während der Schulzeit hatte sie es mal mit einem Praktikum versucht im Büro von 8 bis 16 Uhr. Auch hier konnte sie nicht nach der Toilette fragen. „Habe ich eingehalten, bis ich wieder zu Hause war“, schrieb Nicole auf einen Zettel für Dr. Hartmann am Anfang der Therapie. Die sie übrigens selbst angestoßen hat. Denn irgendwann ging Nicole gar nicht mehr vor die Tür. Massive Depressionen, gekoppelt mit der Sozialphobie hinderten sie. Hartmann bezeichnet es als „emotionale Zwangsjacke“.

Chatten ist der einzige Weg nach draußen

Allein zuhause saß diese Jacke nicht so eng. Außerdem fand Nicole hier einen gefahrlosen Weg nach draußen: Chatten. „Für viele Mutisten der einzige Weg“, sagt Hartmann. So hat Nicole Sidack (32) kennen gelernt, der in Paris lebt. Er sei getrennt von seiner Frau, hat er Nicole erzählt. Seit Juni 2003 chattet Nicole mit ihm. Dein Freund? Sie lächelt, nickt. „Nicht nur nicken. Sag mal was, Nicole“, Dr. Hartmann ermuntert sie sanft, aber fordernd. Sidack wüsste Bescheid über ihr Leiden, erzählt Nicole. Fünfmal hätten sie sich persönlich gesehen, bei ihm in Paris, aber nur in Hotels. Lieber nicht bei ihm in der Wohnung, denn da würden ja auch noch weitere Mitbewohner leben und Nicole habe doch Angst vor Fremden, da würde sie sich ohnehin nicht wohlfühlen. Lautet die Begründung Sidacks.

Gefährliche Welt. Nicole guckt aus dem Fenster. Es hat angefangen zu regnen, die Tropfen klopfen leise gegen die Scheibe. Zum ersten Mal in ihrem Leben packt Nicole das Problem an. Nimmt ein Anti-Depressivum. Trainiert mit Dr. Hartmann das Äußern von Lauten und Worten, macht Übungen in Begleitung von Praxis-Praktikanten: Besuche in Apotheken und Supermärkten, wo Nicole etwas kaufen muss. Es sei ein Irrglaube, dass über 90 Prozent der mutistischen Kinder Missbrauchskinder wären, schüttelt Dr. Boris Hartmann den Kopf. Er sieht die Gründe unter anderem in einer „Veranlagung für Gehemmtheit und sozialängstlichem Verhalten“, gekoppelt mit einer „Überreaktion des Angstzentrums“. Störungen, „die so früh wie möglich behandelt werden müssen, sonst verliert man wertvolle Zeit“, warnt der Therapeut. Viele würden das Problem nicht ernstnehmen. Gerade bei kleinen Kindern würde es missverstanden, für Trotz gehalten. Fatal. „Je älter der Mensch wird, umso mehr richtet er sich in einem Krankheitsgewinn ein“, sagt Hartmann. Hilflose Mitmenschen, die in eine falsche Fürsorge rutschten, indem sie das Sprechen übernehmen, schlössen den Teufelskreis. Nicole will da raus. Sie hat ein festes Ziel: im nächsten Jahr eine Ausbildung beginnen. Was ist dein Traumberuf? Braune Augen. Stumme Blicke. Schweigen. Stille. Es arbeitet in Nicole. Dann räuspert sie sich, „... Gärtnerin“, ein Lächeln schubst das Wort über ihre Lippen. Bevor die sich wieder schließen für eine Zeit.


 
 



 

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