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Borderline-Syndrom

Seelensalat

TEIL 2

Die Grenze. Kontrollposten.

Anne ist Psychologin, hat nach ihrem Studium ein paar Monate in einer Suchtklinik gearbeitet. Heute fährt sie jeden Morgen zu viele Kilometer über Land und betreut in einer Klinik für Psychosomatik Menschen mit Problemen wie Bulimie, Anorexie, Angst. Seit ein paar Tagen, sagt sie, weiß sie wieder, warum sie damals nicht Medizin studiert hat. Da muss man hart sein, Blut und andere schlimme Dinge sehen können. Vor ein paar Tagen hat sich eine Patientin aus Annes Gruppe beide Arme aufgeschnitten. Nicht die Pulsadern, nein, sondern die andere Seite. Immer quer rüber, von den Handgelenken bis zu den Schultern. Als die Arme bandagiert waren und die Beruhigungsmittel nachließen, hat sie am Hals weiter gemacht. "Borderline", sagt Anne, und es klingt schon ziemlich abgeklärt. Was genau in Borderlinern vorgeht, weiß sie auch nicht. Das weiß niemand so genau. Anne kennt nur die Symptome. Depressionen, Ängste, Realitätsverlust, Depersonalisierung, Identitätsdiffusion. Bindungsunfähigkeit, oft verbunden mit übertriebener Promiskuität. Autoaggression, Gefühlsstörungen, innere Leere, starke Emotionsschwankungen, suizidale Tendenzen und noch ein paar andere. Die müssen nicht alle auftreten. Fünf davon reichen, um die Diagnose "Borderline-Syndrom" zu stellen.

Der Begriff "Borderline-Syndrom" ist ein aus der Psychoanalyse stammendes theoretisches Konstrukt. Psychische Auffälligkeiten, die auf der Grenze zwischen Neurose und Psychose lagen, mit denen man nicht so recht wusste wohin, waren "Borderline". Die Begrifflichkeiten haben sich ein wenig verschoben, heute ist Borderline eine definierte Persönlichkeitsstörung – und mittlerweile eine der verbreitetsten. Frauen sind überproportional betroffen. Borderline ist zum Teil therapierbar – heilbar ist es nicht. Anne weiß das natürlich. Und sie kann nur so behandeln, wie eben behandelt wird: Einzelgespräche, Gruppentherapie, bei schlimmen Schüben Psychopharmaka. Berichte schreiben. Nach ein paar Wochen auf Station geht’s zurück ins "Leben". Manche Patienten kommen wieder, einige bringen sich um, was mit den anderen wird, weiß Anne nicht. Sie kennt das schon aus der Suchtklinik. Anne kennt auch Carolin. Flüchtig. "Borderline", sagt sie, und es klingt wieder ziemlich abgeklärt. Anne hofft, dass Carolin niemals hier auftauchen wird.

Die Grenze. Diesseits. Meistens

Carolin hat die Klinik schon hinter sich. Dort lernte sie damals einen Mann kennen, einen Jungen eigentlich noch. Der ist ein bisschen weiter gekommen, als die Männer, die Carolin heute zu erobern versuchen. Die Wand aus Gummi war plötzlich ein bisschen durchlässiger. Der Junge hat sich dann selbst aus dem Leben genommen. Borderline. Die Grenze ist verdammt dünn.

Heute kommt Carolin einigermaßen klar. Die Wunden auf den Armen sind verheilt. Die auf der Seele zum Teil. Zuletzt hat sie eine Ausbildung gemacht, ziemlich stringent, so was ging früher gar nicht. Was das eigentlich soll, wozu das alles gut ist, ist ihr immer noch nicht klar. Und niemand weiß, ob sie weiß, warum sie so ist, wie sie ist. Warum sich ihre Seele manchmal noch windet und aufbäumt und manchmal einfach nur so in der Ecke liegt. Die gängigen Erklärungsversuche für Carolins Probleme sind: schlimme Kindheit, sexueller Missbrauch, Konflikte im Jugendalter, traumatische Erlebnisse. Carolin hatte eine normale Kindheit, soweit man weiß. Normales, kleinbürgerliches Elternhaus, kein Trennungskind. Zu ihren Eltern hat sie ein normal gutes Verhältnis. Wie es scheint. Über außergewöhnliche Konflikte in der Pubertät ist nichts bekannt. Traumata, Missbrauch? Niemand weiß darüber etwas. Außer vielleicht Carolin. Die nicht darüber redet. Nur versucht, zu leben. So gut es eben geht.

Weiterlesen im 3. Teil »


 
 



 

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