Kavkas Elektrische Zahnbürste

Lieber Papa, liebe Mama, ...

... ihr seid jetzt über 60, auf euren Nachttischen türmen sich die Medikamente. Sollte ich mir Sorgen machen?

Von Markus Kavka

Vergangenes Wochenende habe ich meine Eltern besucht. Leider passiert das viel zu selten, vielleicht so vier- bis fünfmal im Jahr, und dann auch nur immer für wenige Stunden. In der Regel habe ich beruflich irgendwas in Bayern zu tun, und bevor ich dann zurück nach Berlin fliege, hetze ich noch mal kurz in die Nähe von Ingolstadt, um Mama und Papa in den Arm zu nehmen und nachzusehen, ob es ihnen auch gut geht.

Sie sind beide Anfang 60, und langsam nehmen die Wehwehchen zu und der Aktionsradius ab. Wenn man mit Ende 10, Anfang 20 von zuhause weg geht, sind auch die Sorgen um die Eltern noch weit weg. Sie gehen arbeiten, verreisen regelmäßig und müssen allenfalls hin und wieder zum Zahnarzt.

Zwanzig Jahre später ist die Situation eine andere. In der Küche und auf den Nachttischen türmen sich kuriose Medikamente, Pillen, die für oder gegen Dinge sind, von denen ich keine Ahnung habe und über die meine Eltern nicht gerne sprechen, schließlich soll ich mir keine unnötigen Sorgen machen. Es sind dies die Übergangsjahre, in denen das Blatt sich wendet - nicht mehr die Eltern sind für die Kinder da, sondern die Kinder für die Eltern.

Na ja, sollten zumindest. Aber jedes Mal plagen mich aufs Neue Sorgen, ein schlechtes Gewissen und eine dumpfe Melancholie, wenn ich meinen Leihwagen aus dem Hof des Hauses manövriere, in dem ich aufgewachsen bin, zum Flughafen und damit an einen Ort brettere, an dem meine Eltern ein einziges Mal in ihrem Leben waren, und kurze Zeit später lande ich dann da, wo ich wohne, im 600 Kilometer entfernten Berlin. Mama und Papa haben mich in den sechs Jahren, die ich da lebe, einmal besucht, zu Mamas Geburtstag. Da kamen sie mit dem Bus, so eine Art Pauschalreise, bei der sie einem Hotel weit draußen in Lichtenberg am Tierpark untergebracht waren und tagsüber, während ich arbeiten musste, eine Stadttour machten, bei der es eine Menge zu entdecken gab, weil meine Eltern zuvor nur einmal in ihrem Leben in Berlin waren, und das lange vor der Wende.

Es tat mir leid, dass ich sie nicht bei mir unterbringen konnte, aber meine Wohnung ist nur ein Raum ohne Zwischenwände, und ich hab nicht mal eine zusätzliche Matratze. Abends waren wir dann im ´Il Casolare´, Berlins Punkrockpizzeria. Das fanden sie ganz lässig, draußen an Biertischen diese leckeren, wagenradgroßen Pizzas zu essen, wie früher, als die Familie inklusive meines drei Jahre jüngeren Bruders Jahr für Jahr in den Sommerferien mit dem Wohnwagen zum Union Lido Campingplatz in Cavallino bei Jesolo abdampfte. Das fehlt mir - wie so vieles, das man nicht mehr zurück holen kann, zum Beispiel auch diese bezaubernde Sorglosigkeit, mit der meine Eltern anschließend in die U-Bahn in Neukölln (!) stiegen, um zum Hotel zurückzufahren, damit ich, der am nächsten Tag früh aufstehen musste, auch ja rechtzeitig ins Bett kam.

Ich bin mir nicht sicher, ob meine Eltern wirklich so ganz genau wissen, was ich die ganze Zeit so tue. Sie sehen mich jeden Tag im Fernsehen, und weil ich auch relativ selten anrufe, ist das für sie notgedrungen eine ganz probate Art, meine Befindlichkeit zu überprüfen. Besonders meine Mutter hat ein untrügliches Gespür dafür, wie es mir geht. Sie sieht, ob meine Augen strahlen oder trübe sind und hört ganz genau auf die Zwischentöne in meinen Moderationen, und wenn etwas nicht in Ordnung scheint, habe ich sie spätestens fünf Minuten nach der Sendung am Telefon, sei es auch nur, um ausgeschimpft zu werden, weil ich schon wieder den schwarzen Pulli mit dem Loch unterm Arm trage, Lügengeschichten erzählt oder geflucht habe.

Meine Eltern kennen mich so gut wie sonst niemand, obwohl sie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr Bestandteil meines Alltags sind. Aber es ist nicht wichtig, was auf meiner Visitenkarte steht, womit genau ich mein Geld verdiene, was ich für Musik höre, wie ich mich anziehe, wie meine Wohnung aussieht, was ich esse und mit wem ich mich rumtreibe. Wichtig ist vielmehr dieses einzigartige Gefühl zwischen ihnen und mir, und das ist da, und es ist warm und geht niemals weg. Und wenn ich sie dann besuche, möchte ich auch gar nichts über Einschaltquoten, Leistungsdruck, Oberflächlichkeit, Enttäuschungen oder Autounfälle erzählen, weil all diese Dinge mir nicht zuletzt wegen der unkonditionierten Liebe, die meine Eltern mir geben, nichts anhaben können. Dann möchte ich viel lieber Geschichten aus unserem Dorf hören, die Mama und Papa beschäftigen, nämlich warum mein Cousin und seine Frau sich getrennt haben, der neue Pfarrer so unbeliebt ist und der Kirchenchorleiter schon nach so kurzer Zeit wieder das Weite sucht. Ich will wissen, wer gestorben ist und wer von meinen ehemaligen Grundschulklassenkameraden geheiratet, Kinder bekommen oder sich getrennt hat.

Meine Eltern denken dann immer, dass mich das, gemessen an meinem ja sonst so glamourösen Leben, entsetzlich langweilen würde, aber genau das Gegenteil ist der Fall, weil ich mich, je schneller sich bei mir alles dreht, um so mehr nach den so ganz anderen Realitäten und Prioritäten in einem kleinen bayerischen Dorf sehne. Um so kurioser, dass sich beides bei meinem letzten Besuch vermischte, weil da in der Lokalzeitung ´Donau Kurier´ nicht nur ein Interview mit mir war, sondern auch ein Foto meines Papas, der eine Ehrung seines Vereins bekam sowie noch eins vom Kirchenchor, auf dem meine Mama zwar fehlte, was aber nichts daran änderte, dass meine Eltern tags darauf von 5000 Leuten auf die Präsenz der Familie Kavka in den regionalen Medien angesprochen wurden. Es hat eine halbe Stunde gedauert, bis sie sich den Weg durch die Menschenmassen vor der Kirche bahnen konnten, um in den Sonntagsgottesdienst zu gelangen.

Dann kommen noch meine Tante und mein Onkel vorbei, die 500 Meter weiter wohnen, und meine Tante hat Kuchen und ganz viel Marmelade gemacht, die ich nicht mitnehmen kann, weil das im Flieger mit dem Handgepäck jetzt immer so ein Zirkus ist, was sie ja nicht wissen können. Aber egal, diese Nahrungsmittel- und Süßigkeitengrundversorgung kann und will ich ihnen gar nicht austreiben, genau so wenig wie das Spritgeld, das meine Mutter mir zum Abschied immer so halbheimlich in die Hosentasche steckt, weil das eben Dinge sind, die Eltern mit ihren Kindern machen.

Die Sachen, die Kinder mit ihren Eltern machen, können noch lange warten. Ich bin mir nämlich sicher, dass sie noch ganz lange gesund bleiben, und selbst wenn sie es irgendwann nicht mehr sind, dann werde ich nicht zulassen, dass sich jemand anderer als mein Bruder, meinen Tanten und Onkel und ich um sie kümmern werden, genau so, wie sie das auch mit ihren Eltern gemacht haben, da war von einem Alters- oder Pflegeheim nie die Rede.

Vor ein paar Monaten hätte ich ein Versprechen wie dieses noch von ihnen unbemerkt in dieser Kolumne publizieren können. Sie haben zwar immer noch kein Internet, allerdings druckt ihnen neuerdings ein Freund alle Texte von mir und über mich aus. Was sie deswegen auch schon wissen: Ende Februar erscheinen die Zuender-Kolumnen gesammelt auch als Buch.

Ihr ahnt, wem dieses Buch gewidmet ist.

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52 / 2006
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