Dunkelheit

Ich bin blind, ich bin blind!

In einem Dunkelrestaurant kann man absolut nichts sehen. Irgendwie ist das auch praktisch.

Die Kolumne von Markus Kavka

So sehr ich auch mit meiner Hand direkt vor meinem Gesicht herumfuchtele, es hilft nichts. Ich kann nicht mal schemenhaft irgendetwas erkennen, alles ist schwarz. Selbst als ich zu meinen Gothic-Zeiten die Wände meines Zimmers mit schwarzer Plastikplane auskleidete und die Rollläden komplett herunter ließ oder in finsterster Nacht im Wald spazieren ging, waren immer noch mühelos irgendwelche Umrisse wahrzunehmen, sobald die Augen sich erst an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber hier und jetzt könnte ich die Augen auch schließen, es würde keinen Unterschied machen.

Ich befinde mich im ´Nocti Vagus´ (dt. nachtschwärmend), einem sogenannten Dunkelrestaurant in Berlin. Dort wird an diesem Abend das 5jährige Bestehen mit einer kleinen Benefizgala gefeiert, zu der ich eine Lesung beisteuere. Als die Anfrage dafür kam, war mein erster Gedanke natürlich: Wie soll das gehen, lesen in totaler Finsternis? Muss ich die Texte vorher auswendig lernen? Oder sitze ich in einem anderen Raum? Beides war nicht der Fall, stattdessen las ich auf einer kleinen Bühne, die sich zwar im Restaurant befand, die aber von den Gästen wegen gleich dreier dicker, schwarzer Vorhänge davor nicht zu sehen war, trotz des Leselämpchens, das die Seiten des Buches dezent erhellte.

Ich war etwas verunsichert in den ersten Minuten. Da ich auch die ein oder andere Lesung im Radio hatte, war mir die Situation, dass ich die Leute, denen ich was vorlese, nicht sehen kann, zwar vertraut, jedoch stellte ich schnell fest, dass es doch noch mal was ganz anderes ist, wenn man die Leute nicht sieht, aber dennoch hört. Da ich über den Hintereingang auf die Bühne gelangte, wusste ich auch nicht, mit was für einem Publikum ich es hier zu tun habe. Wie alt sind die Leute wohl? Interessiert die überhaupt, was hier gerade passiert? Offenbar schon, oder sie sind zumindest höflich, denn schon nach meinen ersten Worten verstummten zügig die Gesprächs- und Essensgeräusche.

Ich las fünf Texte, erzählte zwischendurch noch ein bisschen Quatsch und stellte mich anschließend den Fragen aus dem Publikum. Die kamen auch sehr prompt und zahlreich. Bei meinen Lesungen im Hellen dauerte es immer ewig, bis mal die erste Wortmeldung kam. Ähnlich wie damals in der Schule will sich ja keiner als erster zum Löffel machen. Hier war es egal, sieht ja keiner. Eine Dame, die sich als 60jährige Rollstuhlfahrerin vorstellte, regte an, dass ich mal probeweise einen Tag lang im Rollstuhl in Berlin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren sollte, um zu erfahren, wie behindertenfeindlich diese Stadt ist und wie verbreitet es ist, dass man Menschen mit körperlichen Behinderungen auch gerne mal gleich noch eine geistige unterjubeln will. Davon berichteten mir auch die im Restaurant arbeitenden, ausschließlich blinden oder stark sehbehinderten Servicekräfte.

Weil Blinde sich für unser Empfinden bisweilen etwas unorthodox bewegen, kommt es auch nicht selten zu Sprüchen à la "Aus dem Weg, Spasti!" Vor diesem Hintergrund ist das Konzept des ´Nocti Vagus´ um so wertvoller einzuschätzen, weil es eben nicht nur beinhaltet, im Rahmen eines Integrationsprojekts blinde Menschen als Restaurantkräfte auszubilden, sondern auch Blinde und Sehende zusammen führt, und zwar nicht in der Welt der Sehenden, sondern jener blinder Menschen, also in totaler Dunkelheit.

Nach meiner Lesung begab ich mich zusammen mit meiner Freundin und einer weiteren Freundin ins Restaurant. Dazu wurden wir von einer sehenden Angestellten in eine Schleuse geführt, in der dann das Licht ausgemacht wurde, damit die Tür zum Restaurant geöffnet werden konnte. Per Sprechfunk wurde die Kellnerin herbei gebeten. Sie stellte sich vor, nahm anschließend meine Hand, legte sie auf ihre Schulter, meine Freundin legte ihre auf meine, die dritte Person entsprechend ihre auf die meiner Freundin, dergestalt machte sich dann eine Polonaise auf den Weg zu unserem Platz. Unter meinen Füßen fühlte ich Kontaktstreifen, die die Strecken zwischen den Tischen markierten.

Nachdem ich mich zaghaft auf meinem Stuhl nieder gelassen hatte, ertastete ich erst mal Besteck und Gläser, um bei der nächsten Bewegung mit der Hand direkt in dem Schüsselchen mit dem Kräuterquark zu landen. Wo war denn die Serviette gleich wieder? Ich ertappte mich auch dabei, die ganze Zeit zu flüstern, weil man es eben irgendwie drin hat, an dunklen Orten die Stimme zu senken. Aber hier schläft keiner, den man wecken könnte, es ist auch nichts Geheimes, Konspiratives an dieser Situation, weswegen ich es dann nach ein paar Minuten auch schaffte, in normaler Lautstärke zu sprechen. Ich starrte angestrengt in die Schwärze und bildete mir ein, an der Decke einen schwachen rötlichen Lichtschein auszumachen. Doch ich täuschte mich, man konnte tatsächlich rein gar nichts erkennen.

Ständig hörte man aus allen Richtungen runter fallendes Glas und Besteck, umpurzelnde Flaschen oder ein zischendes "Mist, jetzt hab ich mich vollgesaut!", die Sache fing nach anfänglicher Beklemmung an, richtig Spaß zu machen. Meine Begleitung hatte während meiner Lesung schon das Vergnügen, die Vor- und Hauptspeise genießen zu dürfen. Das ging natürlich nicht ohne gute Sachen vom Teller klauen bzw. die ungeliebten Kartoffeln unbemerkt unterjubeln ab. Um etwas zu bestellen, musste man den Namen der Kellnerin rufen. Sie servierte schließlich Wasser und Wein. Um rauszufinden, wie voll mein Glas ist, steckte ich den Zeigefinger als Markierungsstab rein. Dann kam die Nachspeise, wie alles war auch diese eine Überraschung. Ich ertastete ein zylinderförmiges Eisparfait in der Tellermitte, um das herum verschiedene Früchte drapiert waren. Der Versuch, das Ganze mit Besteck zu essen, scheiterte kläglich. Irritierender Weise fand ich mit dem Löffel noch nicht mal meinen Mund. Ich nahm also die Finger zu Hilfe. Das Parfait schmeckte nach Pfefferminz, die Früchte waren zweifelsfrei Erdbeeren, Kirschen und ein Stück Wassermelone, bei dem ich erst mal kräftig in die Schale biss.

Nach einer Weile stellte ich fest, wie meine Konzentration sich mehr und mehr aufs Fühlen, Riechen und Hören verlagerte. Meine Freundin, die mir eigentlich schräg gegenüber saß, kam um den Tisch herum, um ein bisschen zu küssen. Wofür sie sogleich von der Kellnerin ausgeschimpft wurde. Als diese etwas abräumen wollte, merkte sie sofort, dass der vorher besetzte Platz leer war, und da man sich im Restaurant sinnigerweise nur unter Führung einer Servicekraft bewegen darf, gab´s einen - allerdings sehr lieb vorgetragenen - Rüffel. Meine Freundin lief bestimmt vor Scham rot an, aber auch das war in diesem Fall ja nicht schlimm. Wie man generell sagen muss, dass im ´Nocti Vagus´ sehr schnell aller Betroffenheitsballast über Bord geht, weil der gegenseitige Umgang miteinander so selbstverständlich und normal ist.

Ich kannte bis dato keinen einzigen blinden Menschen persönlich, jetzt weiß ich endlich wenigstens ein bisschen was über diese Art der Behinderung. Als ich dann wieder draußen war, blickte ich voller Stolz, mich nicht bekleckert zu haben, an mir herunter und übersah dabei vollends die am Boden aufgestellten Teelichter. Ich trat gleich mehrere von ihnen schwungvoll über den Haufen und saute meine Schuhe und Hosenbeine komplett mit Wachs voll. Als die blinde Kellnerin davon erfuhr, musste sie ganz arg lachen.

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25 / 2007
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