Selim Özdogan
Bloß ein Croissant
Auf Wikipedia gibt es Wissen. Ob es auch stimmt, was man dort liest, darf einen nicht interessieren.
Das Leben hat sich verändert. Wenn ich früher etwas nicht wußte, habe ich es nachgeschlagen. Falls ich das richtige Lexikon zur Hand hatte. Heute gehe ich an den Rechner, google es oder schau bei Wikipedia rein. Wie lang war die Zeit, die man als Wilder Westen bezeichnet? Was genau ist ein Geschmacksverstärker? Was sind freie Radikale? Welche Nahrungsmittel enthalten tatsächlich und nicht nur gerüchteweise viel Eisen? Wer hat die Sauna erfunden?
Wenn ich die Antworten gefunden habe, glaube ich hinterher immer etwas mehr über die Welt zu wissen.
Eines abends behauptete Maria, Croissants kämen von den Osmanen, bei der Belagerung Wiens sei das Gebäck irgendwie nach Mitteleuropa gelangt. Wie genau das zusammenhing, wußte sie auch nicht, aber es leuchtete ihr ein, schon allein wegen der Halbmondform. Mir nicht, dann hätte es ja in der heutigen Türkei doch irgend etwas gegeben, das mehr als nur entfernte Ähnlichkeit hat.
Eines abends behauptete Maria, Croissants kämen von den Osmanen, bei der Belagerung Wiens sei das Gebäck irgendwie nach Mitteleuropa gelangt. Wie genau das zusammenhing, wußte sie auch nicht, aber es leuchtete ihr ein, schon allein wegen der Halbmondform. Mir nicht, dann hätte es ja in der heutigen Türkei doch irgend etwas gegeben, das mehr als nur entfernte Ähnlichkeit hat.
Und schon saßen wir dem Rechner und es gab eine Legende, die ihrer Geschichte nahe kam. Aber es gab auch noch andere Legenden.
Wir lasen alles über Croissant auf den deutschen Seiten von Wikipedia und danach waren wir für eine Minute Experten. Bis wir auf den französischen Seiten nachschauten. Der Artikel dort war viel ausführlicher, das verwunderte nicht, aber nicht mal die Legenden über die Herkunft waren diesselben. Und auch sonst war einiges anders. Es gab sogar ein Rezept, aber auch das war nicht dasselbe, das wir einige Minuten später auf den niederländischen Seiten fanden. Spanisch, englisch, katalan, finnisch, schwedisch, kroatisch, portugiesisch, italienisch, arabisch, man kann in vielen Sprachen Croissantexperte werden im Internet.
Nur ist das ein fragwürdiges Wissen, da auf jeder Seite etwas Anderes steht. Und nichts davon kann ja die Wahrheit sein.
Bisher habe ich mich hinterher immer für klüger gehalten, sobald ich einen Wikipedia-Artikel gelesen hatte. Wohl wissend, daß den auch nur jemand geschrieben, der möglicherweise kein Experte war. Ich dachte, ich sei näher an irgend einer Wahrheit. Letztlich ist aber wohl doch nur eine Brille, die man sich aufsetzt. Man kann die Welt nach Freud verstehen, nach Marx, nach Sartre oder eben nach Wikipedia. In einer bestimmten Sprache.
Irgendwie muß man den Dingen einen Sinn unterjubeln, einen Zusammenhang. Aber es gibt einfach keine Wahrheit. Es ist wie Sokrates gesagt hat, man hat keine Ahnung, von nichts und daran ändern auch die Informationen im Netz nichts.
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50 /
2007
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