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Afrika, der große Ozean

Viele unserer Probleme sind der reine Luxus. Richtig klar ist mir das erst seit Ryszard Kapuscinskis Reiseerzählungen

Von Felix Wadewitz

Wir waren in Johannesburg. Keine Ahnung wie das Mädchen hieß, wo sie wohnte, was sie machte. Sie saß neben mir und las in einem Buch, das weiß ich noch. Sie las und las. Die ganze Nacht hindurch. Kurz vor der Landung war sie fertig. Sie schaute mich an. "Das solltest du lesen", sagte sie. Und drückte mir das Buch in die Hand. Von Ryszard Kapuscinski hatte ich noch nie etwas gehört. "Afrikanisches Fieber." Na, das passt ja, dachte ich

Wo das Mädchen hinfuhr, weiß ich nicht. Ich fuhr nach Norden, nach Lapalala. Dort arbeitete ich dann eine Weile in einem Tierschutzgebiet. Vier Bücher für vier Monate hatte ich dabei. Ein bisschen wenig im Busch. Kein Kino, keine Kneipe, nix. Und nach Einbruch der Dunkelheit bitte das Camp nicht verlassen. Nur ein Lagerfeuer und das rauschende Radio. Nach drei Wochen begann ich "Afrikanisches Fieber" ein zweites Mal zu lesen. Aber ganz langsam.

Der afrikanische Kontinent ist zu groß, um ihn beschreiben zu können. "Er ist ein regelrechter Ozean, ein eigener Planet, ein vielfältiger, reicher Kosmos", schreibt Kapuscinski. "Wir sprechen nur der Bequemlichkeit halber von Afrika. In Wirklichkeit gibt es dieses Afrika gar nicht, außer als geographischen Begriff." Kapuscinski hat deshalb kein Buch über Afrika, sondern über einige Menschen von dort geschrieben. Über Begegnungen und gemeinsam verbrachte Zeit.

Kapuscinski hat sich 40 Jahre lang in Afrika herumgetrieben. Herumtreiben dürfen, muss man sagen. Der Mann hat Schwein gehabt, dass er überhaupt reisen konnte. Aufgewachsen in einer Stadt, die heute zu Weißrussland gehört, studierte er später in Warschau. Das war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Er wurde Reporter und sah als Korrespondent auch die Welt jenseits des eisernen Vorhangs. Asien, Mittlerer Osten, Südamerika, das ganze Programm also. Und immer wieder Afrika.

Das Buch beginnt in im Jahr 1958 in Ghana, der Schluss spielt gegen Ende des Jahrhunderts in Tansania. Dazwischen ist Chaos. Zeitliche, räumliche und thematische Sprünge so groß wie der Kontinent selbst. Man trifft Marktfrauen und Bauern, die einen mitnehmen in ihre kargen Hütten. Man trifft mutige Revolutionäre, die sich ein paar Jahre später in korrupte Arschlöcher verwandeln. Man wartet auf Busse, die nie kommen. Man wird überfallen. Man steht in der Wüste, am Meer, auf Bergen, im Urwald. Man besucht Slums, Ghettos und Krankenhäuser. Erst freut man sich mit den Fischern über den fetten Fang, dann erfährt man, dass in dem ostafrikanischen See noch viele Opfer des Bürgerkriegs schwimmen.

Ich hatte "Afrikanisches Fieber" extra in den kleinen Rucksack gepackt, als ich nach Maputo fuhr. Kleine Rucksäcke kann man sich im Minibus auf den Bauch schnallen. Wenn der einem allerdings in einer Nebenstraße in Maputo geklaut wird, hat man Pech gehabt. Flugtickets, Reiseschecks, Fotokamera, mein Tagebuch – alles weg. Ich war wütend, ich war leer. Ich erinnerte mich an eine Passage aus dem Buch. Es geht um eine alte, arme, allein lebende Frau. Ihr einziger Besitz: ein Topf, in dem sie Bohnen kochte, die sie vorher auf Kredit gekauft hatte. Der Verkauf der gekochten Bohnen, war der einzige Weg, etwas Kleingeld zu verdienen. Doch eines Nachts weckte ein durchdringender Schrei die ganze Nachbarschaft. Die Frau rannte verzweifelt umher. Man hatte ihr den Topf gestohlen und damit das Einzige, das ihr half, zu überleben. Meine Wut war dagegen, das wurde mir klar, nicht als Luxus.

Das Mädchen, das mir das Buch geschenkt hatte, saß übrigens während des Rückflugs wieder neben mir.

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52 / 2006
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