Quelltexte
Mondreise zu gewinnen
Killerspiele verderben die Jugend, Kinderbücher sind gut für die Moral. Ich warte immer noch auf Sumsemann.
Ssss…bsss…sss. Ich sitze am Tisch, versuche mich zu konzentrieren, doch das Summen dieser Fliege macht mich wahnsinnig. Sie ist unverschämt und furchtlos. Als sie schillernd grün und seelenruhig vor mir sitzt, greife ich instinktiv nach dem schweren Wörterbuch, das neben mir liegt. Ich umklammere es krampfhaft mit beiden Händen. David gegen Goliath.
Langsam entspannen sich meine schweißigen Finger wieder. Als ich das Buch beiseite lege, ist der Kampf ausgetragen. Leicht hebt die Fliege ab, dieses gepanzerte Etwas. Mir scheint, als zwinkere sie mir amüsiert mit den enormen Facettenaugen zu. Ich öffne schon mal das Fenster und warte, bis sie wieder irgendwo landet. Dann folge ich der Anweisung, die Wikipedia für Menschen wie mich parat hat :
"Eine Alternative zur Fliegenklatsche, dazu noch gewaltlos: Nähert man sich einer Fliege langsam und vorsichtig, am besten von vorne, mit der Hand, kann man sie ab einem Abstand von 30–20 cm mit etwas Übung problemlos fangen und ins Freie entlassen. Die Fliege reagiert zwar schnell, sie fliegt aber der Hand entgegen, wenn man sie von vorne fängt…".
Mit dieser guten Tat bin ich meiner Abenteuer-Expedition auf den Mond wieder einen Schritt näher gekommen. Dafür kommt nämlich nur infrage, wer nie einer Fliege, beziehungsweise einem Tier, etwas zuleide getan hat. Woher ich das weiß? Ich bin mit Herrn Sumsemann groß geworden sind, und Peterchen und Anneliese.
Gerdt von Bassewitz’ Kinderbuchklassiker Peterchens Mondfahrt setzte mir bereits im Vorschulalter moralische Maßstäbe, als meine Spielkameraden bevorzugt auf Nacktschnecken sprangen und sich überlegten, wie man Frösche zum Platzen bringen konnte. Das heißt, eigentlich ging es ja nur um die Teilnahmebedingungen zur Mondfahrt. Dass sich das mit Respekt vor der Natur verband – Nebensache.
Insgeheim freute ich mich über die ahnungslosen anderen: Je mehr von ihnen beim Schneckenzertreten dabei waren, desto kleiner wurde der Kreis der Konkurrenten und umso größer meine Chancen, fliegen zu lernen, den Weihnachtsmann zu treffen, im Schloss der Nachtfee mit den Wettergöttern zu Abend zu essen.
Ich war verzaubert von der wunderbaren Welt, die den Geschwistern und dem fünfbeinigen Maikäfer Herr Sumsemann auf der Suche nach dessen sechstem Beinchen begegnete: Bunt, prunkvoll, glitzernd, aufregend. Weniger gefiel mir, dass es dort durchaus zu ernsten Situationen kommen konnte. Die permanente Gefahr, die vom Mondmann ausging, wollte einfach nicht in diese traumhafte Atmosphäre passen. Doch inzwischen konnte ich die Geschichte selbst lesen und, was noch wichtiger war, sie für mich zurechtschneiden.
Ich entschloss mich zur literarischen Traumreise. In den meisten Aufsätzen, die ich in der dritten Klasse schrieb, könnten aufmerksame Leser Mondfahrt- Motive erkennen. Meine Protagonisten bewegten sich in himmlischen Gefilden, sollten aber auf gar keinen Fall mit dem Bösen in Gestalt des Mondmannes konfrontiert werden. Ich bastelte mein eigenes Disneyland auf dem Mond, von Bassewitz’ Geschmack wäre das sicher nicht gewesen.
Im Lauf der Jahre begann ich aber, der Realität ins Auge zu schauen, bis fast nur noch der Mondmann übrig blieb. Ich verlernte, von einer durch und durch harmonischen Welt zu träumen. Wenn ich heute das Abenteuer der beiden Kinder lese, rührt mich diese nie gewesene Welt, in der Mut, Höflichkeit, Großherzigkeit und Nächstenliebe die Gewinnertugenden sind. Dass letztendlich doch Gewalt angewendet werden muss, um das Abenteuer heil zu durchstehen, darüber kann ich hinweg sehen.
Ein bisschen ärgerlich finde ich allerdings die Rückständigkeit in Sachen Gender Mainstreaming . Der Buchtitel müsste im Jahr 2006 ja wohl "Annelieschens und Peterchens Mondfahrt" lauten. Aber das konnte Gerdt Bernhard von Bassewitz-Hohenluckow damals ja nicht ahnen.
Ob ich immer noch auf einen Herrn Sumsemann warte? Vielleicht. Es ist mir zu einer Gewohnheit geworden. Eine Gewohnheit, die ihr Ziel oft aus dem Blick verliert. Bestimmt aber bin ich beim Warten auf Herrn Sumsemann glücklicher als andere beim Warten auf Godot.
Auch schön:
Alles falsch. Richtig.
- Manchmal tut man Dinge, von denen man weiß, dass sie falsch sind. Aber trotzdem richtig.
Nach diesem Buch war alles anders
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49 /
2006
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