Kurzgeschichte
Schicksal halt
Die Hilflosigkeit beim Versuch, zu beschreiben, wie ein vereinzeltes Geräusch in der Stille klingt. Eine fremdenfeindliche Jakobsweggeschichte.
11.07 Uhr: Da war Scheiße unter dem Schnee und jetzt ist sie unter meinem Schuh, die ist wahrscheinlich von irgend so einem nordspanischen Hochlandköter, die sind sowieso noch schlimmer als die nordspanischen Hochlandmenschen, die sind nicht nur unfreundlich, laut und aggressiv, die scheißen auch noch alles zu, wenigstens das haben die Menschen hier ja inzwischen abgestellt, beziehungsweise sie sind einfach nicht mehr da, deshalb sind die Dörfer der Montes de Leon ja verlassen, deshalb sind sie sogar die berühmten verlassenen Dörfer der Montes de Leon, und das ist ja nicht umsonst so, das ist, weil Südeuropa immer da am schönsten ist, wo die Südeuropäer fehlen. Aber die Köter wird man hier wohl nie wegkriegen, die leben wahrscheinlich ganz gut vom Fleisch erfrorener Jacobspilger.
11.12 Uhr: Ich weiß zwar nicht, was für rockige Episoden Nansen und Johansen auf Franz-Josef-Land zu überstehen hatten, aber ich gehe einfach mal fest davon aus, dass ich der erste Mensch bin, der in einem brusttiefen Schneeloch versackt und dann auch noch in Scheiße tritt. Wer denkt sich so was aus? Ist das Zufall? Oder haben die Faulgase dem Schnee so zugesetzt... Das war wie Pappe, wie Pappe, auf der man steht und die dann reißt. Ein Gefühl aus Kindertagen, welches ehemalige aufgeweckte Kind kennt es nicht, das Spiel mit den Verpackungsmaterialien, diese letzte subtile Absage an die Welt der Warengüter, bevor dann der Konsumterror des Kindergartens anfängt, und danach geht es ja quasi nur noch bergab, dann fängt das Leben schon im locker einstelligen Altersbereich an, lauter zu werden, immer lauter, bis dann irgendwann die erste unsubtile Absage an die Welt der Warengüter erfolgt, der erste Ansatz von Aussteigen, von Selbsterfahrung, von Es-radikal-anders-machen, irgendeine Nuance zwischen Kloster und Yoga. Da dann: Die Hilflosigkeit beim Versuch, zu beschreiben, wie ein vereinzeltes Geräusch in der Stille klingt.
11.18 Uhr: Jetzt klingt nichts mehr: Jetzt ist wieder nur Ruhe, und eine sirrende Hochspannungsleitung – Hochspannungsleitungen sind in Nordspanien ja überall, wo sonst Idylle sein könnte. Hochspannungsleitungen stellen die Spanier immer da auf, wo sie mit ihrem eigenen verkorksten Wesen nicht hinkommen, quasi als Platzhalter, Hauptsache hässlich und unerfreulich. Ich bin nun also ein Punkt unter der spanischen Februarsonne, ein Punkt ohne eine Chance darauf, Linie zu werden, denn dieses Loch ist – wie schon gesagt – mannsbrusthoch oder –tief und nebenbei verdammt schmal. Die Schwerkraft hat meine Füße in die schmalste Auslassung weit und breit gerammt und da komme ich jetzt aus Körperkraft nicht mehr raus. Damn it!
11.25 Uhr: Meine Füße sind kalt und stehen in Scheiße, mein Kopf ist kalt und steht im Wind, mein Oberkörper ist warm und feucht und steckt in billigem Goretex, vermutlich ist der auch bald kalt, meine Hände sind kalt und nass vom Graben im Schnee, der aber hart ist, also nicht steinhart, ich will nicht übertreiben, aber so hart, dass ich mich nicht so gewinnbringend nach vorne freischaufeln kann, dass sich hinten der Rucksack aus der Verkantung unter der Schneewehe löst. Und die Geschichte, die es eventuell zu erzählen gäbe, wenn ich diesen Quatsch wider Erwarten doch überlebe, ist bereits millionenfach verkauft. Verfickte Scheiße.
11.30 Uhr: Und ja, verdammt, niemand kann sagen, er hätte mich nicht gewarnt. Schon in Rabanal – 300 Meter unterhalb des Gipfels – hingen drei abgerissene Mütterchen an meinen Beinen und brabbelten in diesem hochlandspanischen Sermon, diesem Tonfall irgendwo zwischen Allgäu und Atlantik und zwischen Hysterie und Resignation, einem Tonfall, bei dem ich schon aus reiner Abneigung gegen die Urbevölkerung nicht zuhöre. Nebenbei kann ich kein Wort Spanisch. Aber es ging bestimmt um den Schnee, der, wie ich jetzt weiß, unter seiner rutschig-vereisten Decke noch 1,70 Meter in die Tiefe geht.
11.34 Uhr: Wenn es wenigstens wen zum Solidarisieren gäbe. Aber hier sind ja alle scheiße, die Zivilbevölkerung nervt schon allein qua Sprache und Sprechtempo, und auch sonst ist alles grundlegend verkorkst, was man so trifft, bei dieser Latschtour auf der Rennstrecke charismatisch angewichster Neochristen. Ich wünsche mir eine Belohnung dafür, dass ich kein verstrahlter Hysteriker bin. Das Tauwetter möge mich jetzt bitte hier raustauen, oder die Erdrotation rausrotieren oder wasauchimmer. Ich fordere von Gott eine kleine Anerkennung dafür, dass ich diesen Winter-Wanderurlaub von Vornherein und entgegen aller Gewohnheit in mildere Breitengrade verlegt habe. Herr im Himmel, ich wäre doch niemals nach Spanien gefahren, wenn Lappland zu dieser Jahreszeit nicht völlig unmöglich wäre. Ich habe ergo ein Recht darauf, zu überleben.
11.41 Uhr: Die Scheiße taut einfach nicht, und mit Scheiße meine ich jetzt den Schnee, denn die eigentliche, im semantisch korrekten Sinn als Scheiße zu bezeichnende Scheiße taut sehr wohl, derweil mein Fuß über ihr gefriert, es riecht zumindest so und fühlt sich so an. Vielleicht ist das auch der Fuß selbst, der so riecht, vielleicht stehe ich auch auf einer toten Ratte oder einem toten Katholen, wer außer Schlachtern und Soldaten kennt schon Leichengeruch nicht nur als Wort, sondern als Wahrnehmung? Wo bleiben die Hunde, die mich retten wollen, wo bleiben die Hunde, die mich essen wollen, wo bleiben die Hunde, die mich wittern können? Können die mich nicht finden? Taugen im Land der immerfort keifenden Talentlosigkeit auch die Hunde nichts? Anscheinend. Einen kompetenten Hund vermute ich frühestens im nördlichen Südfrankreich.
11.48 Uhr: Hier stehe ich also, in unproduktiver Misere, und angesichts der Rahmenbedingungen, der völligen Nutzlosigkeit der Situation, scheint es mir doch etwas bescheuert vom Schöpfungsplan, dass ausgerechnet eine Edelindividue wie ich in diesem Scheißland draufgehen muss, derweil jede Menge mehr oder minder nutzloses, wenn nicht gar störendes Humankapital munter weiterexistiert. Die Straße dürfte nur 400 Meter weit wegsein, das ist nicht allzu viel, aber dieser Schnee schluckt ja jedes Geräusch, außerdem lasse ich mich nicht von jedem retten. Trotzdem: Überleben wäre schon schick, die Welt soll schließlich nicht umsonst darauf gewartet haben, von mir gerockt zu werden.
11.53 Uhr: Es wäre ja eigentlich schon lange Zeit gewesen für mein literarisches Debut gewesen, aber nun gehe ich sans oeuvre einer famosen Zukunft als junger Toter des Roadtripping-Rock’n’Roll entgegen, was niemandem klar sein wird, wenn ich nicht jetzt noch schnell etwas schreibe. Ich habe Block und Stift in den Händen, die waren in der Jackentasche erreichbar, ich habe Ersatzmienen für den Kugelschreiber, ich habe noch schätzungsweise zehn Stunden Zeit, mein Werk entscheidend aufzustocken, sonst halten mich die Suchmannschaften nachher tatsächlich für einen handelsüblichen Outdoor-Trekking-Toten, oder schlimmer noch: für einen Christen. Für mich ist das heute – sehen wir es mal optimistisch – eine echte Chance: Wirklich zu sterben – und vorher zu schreiben.
11.59 Uhr: Und jetzt, was habe ich denn jetzt, nichts habe ich außer schlechten Ideen, und zu viel Zeit und einen Block und einen Stift. Ich könnte doch jetzt eigentlich aus einer Grenzerfahrung heraus schreiben, müsste können, aber das ist ja auch gefährlich, Bewusstsein lähmt, ich gehe ja davon aus, dass man die Leiche mit diesen Aufzeichnungen findet, und das wird dann darüber entscheiden, ob man das Lebende, das mal in dem Toten war, cool findet oder vernachlässigenswert, ob ich die Anne Frank des neuen Jahrtausends oder zum Teil jener Kontrastmasse werde, die im Doku-Sprech "Millionen namenloser Opfer" heißt.
12.03 Uhr: Ich möchte die rock’n’rolligste Leiche sein und fange dafür noch mal von vorne an und zerfetze die Worte der letzten Stunde, was ist das auch für ein Mist, Moment, das ist nicht zitierfähig, ich werde es essen, vor allem die Lyrik, wer braucht schon Songtexte, wenn er weder Gitarre noch Publikum dabeihat, und wer braucht Dichtung vor dem Tod, hat denn irgendjemand tatsächlich mit einem Fuß im Grab oder in der Scheiße noch Alexandriner konstruiert, das will mir doch niemand erzählen, oh Gott, und das war trotzdem alles schon so depressiv, wie würde die Weltliteratur wohl aussehen, wenn die ganzen Nasen tatsächlich ihre letzten Minuten verdichtet hätten, Mann, das wäre düster, oder auch nicht, man neigt ja zu so einem gesunden Phlegma, wer bald stirbt, hat keine Veranlassung zur Hitze, und dann kommt ja noch die Überkompensation, die gute alte Überkompensation, ja, die Weltliteratur wäre viel bodenständiger, und ich könnte jetzt meinen Beitrag leisten, aber es ist alles anders und ich werde nichts tun können als haltlos schreiben wie ein Schuljunge.
12.07 Uhr: Whatever, ich muss mich jetzt auf meine Geschichte konzentrieren, ich muss darauf warten, dass der Lebenserinnerungsfilm losläuft und dann werde ich einfach mitprotokollieren, mehr als Autobiographie ist jetzt eh nicht mehr drin, ich kann meine knapp bemessene Zeit ja nicht mit Exposés und dem Entwerfen von Charakteren und Plotstrukturen verschwenden, ich muss nun von der Substanz zehren, ich kann also nur hier stehen und auf den großen Familienroman nach 68 warten, ich hoffe, dass er in mir drin ist, schon da, reif, Hardcover. Der muss jetzt rauskommen, sehr schnell, ein Scheiß-Ort für den ultimativen Ego-Hype zwar, aber egal, Schicksal halt, es muss sein, ich bin zuversichtlich, ich hoffe, ich warte.
Zuletzt veröffentlichten wir von Jo Schneider
die frauenfeindliche Amerika-Erinnerung "Amber"
. Mehr Texte des Autoren gibt es auf seiner Internetseite Maennerfantasie.de.
3 /
2009
ZEIT ONLINE