Rumänien

Reise nach irgendwo

Er spricht zwar kein Wort rumänisch und weiß noch nicht, wo er arbeiten wird, aber egal. Arne Semsrott verbringt ein Jahr in Rumänien und berichtet für den Zuender darüber. Teil I: Vorurteile oder der Mangel an ihnen.

Stunde 0: Jetzt heißt es Abschied nehmen. Vor mir liegen laut Ticket genau fünfzig Stunden Busfahrt. Das Ziel ist Rumänien, wo ich mein Freiwilliges Soziales Jahr ableisten werde, Hamburg lasse ich hinter mir.

Stunde 3: Der Bus hält an jeder Milchkanne und füllt sich allmählich – ausschließlich mit rumänischsprachigen Menschen. Ich verstehe kein Wort.

Überhaupt ist meine persönliche Vorbereitung auf das kommende Jahr suboptimal verlaufen: Ich weiß nicht, wo ich arbeiten werde, kann noch nicht einmal auf Rumänisch nach dem Weg fragen und habe neben Kleidung, Büchern und Laptop nur einige Vorurteile mit im Gepäck.

Stunde 8: Aufregung im Bus – eine Rumänin wurde an einer Tankstelle beim Versuch erwischt, zu klauen. Weil sie ein Kind dabei hat, wird die Polizei nicht gerufen und die Mutter darf mit ihrem Nachwuchs weiterfahren.

Von Kriminalität habe ich im Vorfeld viel gehört. Von Roma und Sinti oder Zigeunern, wie sie politisch unkorrekt heißen. Und von Dracula natürlich. Wirklich viele Vorurteile gibt es über Rumänien aber nicht. Da wurden in meinem Bekanntenkreis eher Anleihen bei Polen gemacht ("Bringst du mir ein Auto mit?"), oder bei den Russen ("Na dann, na strovje!").
Meine Mutter warnte mich, ich solle rumänischen Frauen nicht zu lange anstarren – sonst warteten Probleme mit ihrer Sippe auf mich. "Dein Vater bekäme dort sicher Schwierigkeiten", lachte sie.


Stunde 12: Intensive Versuche an einigen weiblichen Mitreisenden erhärten den Verdacht meiner Mutter nicht.

Stunde 17: Bei der Ankunft an einer Raststätte kurz vor Linz sind 44 Passagiere an Bord, bei der Abfahrt sind es nur noch 42. Einige Fahrgäste wundern sich.

Stunde 18: Jetzt wundert sich auch der Busfahrer.

Stunde 19: Er beschließt, die beiden Vergessenen am Ort des Geschehens wieder aufzusammeln und kehrt trotz massiven Protests der Businsassen um.

Immerhin konnte ich einige Vorurteile über Deutschland im Vorfeld der Reise ausräumen. Bisher dachte ich nämlich, Deutsche wären strukturiert und organisiert. Die Organisation, über die ich im Osten arbeite, hat es allerdings bis zu meiner Abreise nicht geschafft, mir Informationen über meinen Einsatzort in Rumänien zu geben. Der Zuständige in Rumänien war erst einige Zeit im Urlaub, dann klappte die Kommunikation nicht – angeblich war der deutsche Spamfilter Schuld. Der Kommentar meines Ansprechpartners: "Das wird halt ein großes Abenteuer!" In der Tat.

Stunde 21: Die Busbrüchigen sind natürlich nicht mehr an der Raststätte aufzufinden. Wütend droht der Busfahrer über das Bordmikrofon jedem das gleiche Schicksal an, der bei künftigen Pausen zu lange auf der Toilette bleibe.

Stunde 27: Grenzkontrolle. Willkommen in Rumänien.

Stunde 33: Bei einer Rast breitet ein Hütchenspieler vor dem Bus Ball und Becher aus. Ein wagemutiger Passagier spielt mit und setzt alle Scheine aus seinem Portmonnee auf den rechten Becher. 600 Euro. Der Ball findet sich unter dem mittleren Becher wieder, der Mann steigt entgeistert ein, der Bus fährt weiter. In den folgenden Minuten ist aus der vorletzten Reihe ein leises Schluchzen zu hören.

Zum Schluchzen war auch mir zumute gewesen, als ich zwei Wochen vor meiner Abfahrt benachrichtigt wurde, dass ich nicht wie geplant in einem Obdachlosenheim in Botosani, sondern in einem Heim für schwer behinderte Kinder in Suceava arbeiten würde. Auf die Idee, dass ich das nicht wollte, kam niemand. Auf meine Beschwerde hin wurde mir aber versprochen, sich um eine Alternative zu kümmern. Wo ich arbeiten werde, ist also immer noch unklar.

Stunde 39: Ermüdungserscheinungen beim Busfahrer. Der entgegenkommende Laster kann aber noch rechtzeitig ausweichen.

Einen Tag vor meiner Abreise teilte mir die Organisation mit, ich solle mir ein polizeiliches Führungszeugnis besorgen. Auf die Frage, wie ich das in so kurzer Zeit schaffen solle, herrschte Verwirrung am anderen Ende der Leitung – ich hätte doch noch ein paar Tage Zeit. Es stellt sich heraus, dass die Organisation sich meinen Abreisetag falsch notiert hatte. "Du musst ja denken, dass wir ein Saftladen sind."

Stunde 52: Ankunft in Suceava, rein ins Taxi, Fahrt zur Wohnung, Gepäck die Treppen hochwuchten und die Tür auf. Mir kommt heftiger Modergeruch entgegen. Das kann ja heiter werden.

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01 / 2008
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