Familienfeste

Die Überlebenden

Feiertage sind oft die Zeit für Zank und Streit. Das gilt für jüdische, muslimische und christliche Familien gleichermaßen. Junge Leute aus Bahrain, Israel, Jordanien und Norwegen erzählen

Zuender kooperiert mit dem Weblog mideastyouth.com, in dem junge Menschen aus Ländern des Nahen Ostens über ihr Leben schreiben. Das Netzwerk hat sich der interkulturellen Verständigung verschrieben.

Wir haben die Autoren und Leser von Mideastyouth gefragt: "Wie ist das, wenn an wichtigen Feiertagen die ganze Familie zusammenkommt?" Die Originalversionen ihrer Antworten findet ihr hier (Englisch)

Esra'a, Bahrain: Das Zuckerfest ist Läster-Zeit. Alle tragen dann ihre neuen Kleider und die anderen sagen Dinge wie: "Autsch, schau was sie an hat. Haha, kuck dir diesen Typen an." Arabische Familien sind wirklich riesig. Ich habe hunderte von Cousins und Cousinen ersten und zweiten Grades.

Erster Kuss, Alkohol, Integration: Alle Themen von mideastyouth.com

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Niemand freut sich darüber, dass wir einfach zusammen sind. Die Leute beneiden sich gegenseitig, beschweren sich beieinander – ich kann mich an kein Zuckerfest erinnern, bei dem nicht irgendwer in Tränen ausgebrochen wäre.

Und all diese Kinder... Ich habe keine Ahnung, wer sie sind. Sie laufen rum und nehmen einen irgendwann zur Seite: "Wessen Kind bist du? Seit wann hat meine Tante ein drittes Kind?"

Dezember ist die Zeit der Lüge. Jeder täuscht ein Lächeln vor, jede Familie täuscht Perfektion vor, jedes Paar täuscht Liebe vor. Und am Ende des Monats beschweren sich alle, wie sinnlos das vergangene Jahr war.

Hoffentlich sind die anderen hier weniger zynisch: Ich persönlich bin nicht sonderlich scharf auf diese Zeit des Jahres.

Eliesheva (Israel/USA): Ich schätze, in jüdischen Gesellschaften ist das nicht anders – seien die nun in Israel oder Amerika. Das ist universell.

Aber der Materialismus tritt deutlicher zutage während der amerikanisch-jüdischen Feste. Neue Kleider, Geschenke, die Kinder vorführen. Familien-Drama. Israel ist generell entspannter.

Die hohen jüdischen Feiertage finden im Frühjahr ( Passah-Fest ) und im Herbst statt ( Rosch ha-Schana, das Neujahrsfest ). Chanukka ist schön, aber die beiden ersten sind wirklich amtlich.

Blue! (Jordanien): Ich habe hier kaum Familie: Nur meine Eltern und einen Onkel. Der Rest lebt überall verstreut. Feiertage bedeuten darum hauptsächlich, dass ich mit meiner Familie esse. Mehr nicht.

Tor (Norwegen): In Norwegen geht es an Weihnachten um Essen, Familie und Geschenke (wie man es in einem Land mit 80 Prozent Atheisten auch erwarten würde). Die Menschen nehmen sich viel Zeit für die Vorbereitung. Zum Beispiel essen wir Schinken, dessen Herstellung Ewigkeiten dauert.

Die Leute fliegen von überall her ein, an den späteren Feiertagen treffe ich zum Beispiel viele Freunde und Bekannte, die es durch Studium und Arbeit in die Welt verschlagen hat. Lästereien gibt es bei uns nicht – zumindest nicht in meinem Freundeskreis. Wir haben so viel nachzuholen und zu erzählen: Was im vergangenen Jahr passiert ist, was im nächsten passieren wird.

Heute habe ich meinen Cousin getroffen, der sechs Monate in Tansania leben wird, meinen Onkel, der in Frankreich lebt und am Telefon meine Schwester, die in Alabama studiert. Morgen treffe ich dann meine Tante in Oslo, meinen Cousin, der irgendwo Arzt ist (ich habe die Stadt vergessen) und eine Reihe anderer Leute.

Ich liebe Weihnachten und ich glaube, alle anderen die ich kenne lieben es auch. Jeder auf seine Art, natürlich. Ihr Zyniker verpasst etwas.

Esra'a (Bahrain): Meine Familie ist einfach so verdammt langweilig im Vergleich zu deiner. Und wir sind nicht halb so feierlich an unserem Zuckerfest.

Ich liebe meine direkten Verwandten sehr, so sehr sie auch nerven. Ich verbringe gern Zeit mit ihnen und feiere gern diejenigen Feste, die nur für den kleinen Kreis da sind.

Aber meine entfernte Verwandschaft? Ich glaube, sie geben sich besondere Mühe, mir das Gefühl zu verschaffen, ich müsste mich mit dem nächstbesten Gegenstand zu erwürgen.

"Was studierst Du? Wirklich? Das ist wirklich schlecht. Warum bist du nicht wie unsere perfekte Tochter, sie studiert Literatur. Sie ist wirklich gut. Warum bist du nicht so gut gekleidet wie sie? Warum wirfst du dein Leben so weg? Betest du überhaupt noch? Ich bezweifle das ja. Fünf mal am Tag? Ich wette, du bist nicht einmal mehr Muslima. Du bist nutzlos. Unsere perfekte Tochter ist ein Goldstück, verglichen mit dir. Du bist ein Looser. Schau dich doch an. Übrigens: Wie findest du meine Frisur?"

Das ist ungefähr das, womit ich mich herumschlagen muss. Deswegen verstehe ich nicht ganz, was ich verpassen sollte.

Ich sage es noch einmal: Meine Eltern und Geschwister sind die besten, die entfernte Verwandschaft ist schrecklich wie niemand sonst. Und die letzteren sind es, mit denen man am Zuckerfest die meiste Zeit verbringen muss.

Murad (Kuwait): Meine Familie ist ebenfalls weit verstreut. Zum Zuckerfest gehe ich ins Haus meiner Eltern (aus dem ich vorigen Sommer ausgezogen bin) und esse mit ihnen. Das ist schon alles, nichts besonderes. Wie Esra'a wünschte auch ich mir, dass das Zuckerfest irgendwie feierlicher wäre.

Früher war das so, doch heute langweilen sich sogar die Kinder zu Tode. Aber das ist von Familie zu Familie unterschiedlich. Es wird immer noch welche geben, die es so offen und froh begehen, wie nur möglich. Vermutlich sind das aber nicht die meisten.

R E Konrad (USA): Wow, was für ein Fenster zu Welt! Ich lebe im konservativen East Tennessee, manche sagen auch Bible Belt dazu. Ich wusste, was Chanukka ist, da mein Bruder ein jüdisches Mädchen geheiratet hat. Aber vom Zuckerfest habe ich noch nie gehört, geschweige denn von seiner Bedeutung. Nun frage ich mich, wer den Plan für all diese verschiedenen religiösen Feste gemacht hat, die alle so nah beieinander liegen... und wie es kommt, dass wir scheinbar alle die gleichen Gefühle haben, wenn es um solche Feste geht.

Elinor (Iran): In Iran ist Nouruz, das Frühlingsfest , der höchste Feiertag. Der persische Neujahrstag, der (glaube ich) nur in Iran, Afghanistan und Tadschikistan gefeiert wird. Zur Tradition gehört auch, gemeinsam mit der Familie zu feiern.

Die Verwandtschaft zu treffen ist nicht immer sonderlich schön, selbst wenn das nette Leute sind. Aber gerade wenn man sich nur einmal im Jahr sieht, ist es schwer, mit anderer Leute Ansichten klar zu kommen – und deren kritischen Kommentaren. Würde man sich öfter sehen, wäre das wahrscheinlich einfacher: Man kennt diese Ansichten, hat sich daran gewöhnt und wäre nicht so schnell beleidigt.

Aber vielleicht steckt ein tieferer Sinn dainter. Wir lernen, mit Menschen zu kommunizieren, die nicht die selben politischen, religiösen, sozialen oder emotionalen Ansichten teilen. Mit Menschen, die uns nah genug sind, um uns zu kritisieren, zugleich aber entfernt genug, nicht an die Essenz unseres Denkens heranzukommen - die man ja nicht innerhalb weniger Stunden erzählen kann.

Wir lernen also, uns so zu nehmen, wie wir sind, da wir nur für kurze Zeit eingeladen sind, zu dieser Party des Lebens. Da jederzeit jemand kommen kann und sagen: "Ok, die Party ist vorbei." Bis dahin sollten wir das Fest genießen und es genießenswert machen.

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52 / 2007
ZEIT online