NETZ-ZUKUNFT
Teile und herrsche
Kann das Internet irgendwann die Staaten überflüssig machen? Vielleicht, aber es gibt eine Idee, die faszinierender und menschlicher ist. Ein Essay von Peter Glaser, Mitgründer des Chaos Computer Clubs
Frei, demokratisch, hierarchiefrei soll die Welt der Zukunft sein – und das Internet soll dieser Vision Gestalt geben. Die Bedeutung der Begriffe Zukunft und Online nähert sich immer mehr an. Utopien, wie das Netz unser aller Leben verändern könnte, gibt es viele . Aber denkt man über die Zukunft der Vernetzung nach, ist es interessant, erst einmal einen Blick darauf zu werfen, woher die Idee eigentlich kommt.
Die ersten menschgemachten Netze waren die Bewässerungssysteme der alten Ägypter und Babylonier. Sie waren auf fundamental neue Art gemeinschaftsbildend. Ihre Einrichtung verband vor etwa 6.000 Jahren in Ägypten die soziale und ökonomische Leistungsfähigkeit verstreuter Ansiedlungen zu einer historisch neuen Organisationsform: dem Staat. Der Einzelne profitierte durch höhere Ernteerträge, musste dafür allerdings erstmals einer übergeordneten Instanz, die fern seiner lokalen Realität residierte, Abgaben leisten.
Das Internet schenkt heute vielen ein Gefühl federleichter Beweglichkeit und schwindender Entfernung, und manchen erscheinen die politischen Gefüge, deren Grenzen das Web so leichthin überschreitet, bereits als Anachronismus . Sie wollen, dass die Nationalstaaten verschwinden, von denen im Lauf der Geschichte schon so viel Unheil ausgegangen ist. Ein Weltstaat, so die Vision, würde den Planeten von der Bürde des Kriegs befreien und enorme kulturelle und wirtschaftliche Kräfte freimachen.
Ein Beispiel für das, was passieren kann, wenn sich ein Nationalstaat einfach auflöst, ist Somalia . Wer die Hoffnung hegt, dass mit der Nationalstaatlichkeit auch der fatale Nationalismus verschwindet, der wird sich nicht nur am Horn von Afrika enttäuscht sehen. Statt Nationalismus heißt es jetzt Tribalismus, statt eines Diktators sind es nun Clans, die um regionale Bruchstücke der Macht kämpfen.
Schaurig ist die Vorstellung der Zentralbürokratie, die mit einem Weltstaat verbunden wäre. Auch die Utopie selbst ist kein per se positives Konzept. Alle nennenswerten Utopien kranken daran, dass sie einen Zielzustand festschreiben, in dem jeder Fortschritt endet. Wenn man will, dass menschliche Kultur sich weiterentwickelt, wird man jedoch feststellen, dass Kultur ständige Entwicklung bedeutet – und eine Zunahme an Unterschieden.
Die Welt wird durch das Netz nicht einfacher, sondern vielfältiger. Ich glaube daran und hoffe darauf, dass eine mit Bildung versorgte und informierte Welt eine bessere Welt sein wird. Es ist weniger die Zukunft des technologischen Phänomens Internet, die mich interessiert, als die Zukunft der Menschen, denen dieses Instrument vielfältig nützlich sein kann – sofern es ihnen zur Verfügung steht.
Begonnen hat das Internet als ein von der Geografie losgelöster Ort. Heute beginnen aber die alten Koordinatensysteme der Landkarten wieder das Netz zu überziehen. Geolocating heißt das Verfahren, mit dessen Hilfe ermittelt werden kann, von wo aus ein Surfer ins Netz geht. Online-Händler und Geldinstitute versuchen durch Geolocating, Internet-Betrügereien einen Riegel vorzuschieben. In manchen Gebieten dürfen bestimmte Dinge nicht oder nur in bestimmter Form angeboten werden – jemand, dessen Rechner in China steht, bekommt beispielsweise nur die zensierte Version der Suchmaschine Google auf den Bildschirm. Das Reich der Mitte verfügt inzwischen über das weltweit umfangreichste System zur Filterung von Webseiten. Ungeachtet dessen sind Experten davon überzeugt, dass sich das Internet in China trotz der Zensur zur wichtigsten Quelle alternativer Informationen entwickelt und einen unumkehrbaren Demokratisierungsprozess in Gang gesetzt hat.
Es gibt eine Schlüsselerwartung: Die neuen Technologien werden die Gemeinschaft dem Staat überlegen machen und auf diese Weise die Entwicklung der Demokratie stärken. Aber technischen Fortschritt und gesellschaftliche oder moralische Reife insgeheim gleichzusetzen ist gefährlich. Das Internet ist vor allem deswegen so schnell gewachsen, weil es einen weltweiten Markt geschaffen und ermöglicht hat. Märkte aber sind nicht darauf ausgelegt, das zu tun, was demokratische Politik leistet. "Niemand wird Hunderte Millionen Dollar im öffentlichen Interesse investieren", so John Malone, ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender des US-Kabelgiganten Telecommunication Inc. (TCI). "Wenn jemand diese Haltung vertritt, fliegt er raus."
Vor 3000 Jahren gab es auf der Welt eine halbe Million verstreuter, kleiner Kulturen. Heute haben wir 193 Nationalstaaten, deren Kommunikation immer mehr bestimmt wird von Weltnachrichtenmedien, Weltpopmusik oder einem Welt-Entertainment à la Hollywood. Folgt man dem Philosophen Peter Sloterdijk , so hat sich "hinter dem Rücken der Nationalbevölkerungen in allen Weltgegenden bereits eine Art De-facto-Weltgesellschaft gebildet und in den ersten Zügen eingespielt". Also einfach warten, bis die Nationalstaaten durch immer stärkere Zunahme an transnationalen Strukturen korrodieren? Mitwirken durch die Teilnahme an überstaatlichen Projekten – Linux, Wikipedia, internationale Kommunikationsbörsen?
Ich wäre durchaus dafür, dass die Nationalstaaten verschwinden, aber zugunsten von mehr und kleineren staatlichen Einheiten. "Small is beautiful" – dieser Begriff stammt von dem 1994 verstorbenen österreichischen Philosophen Leopold Kohr. Im September 1941 veröffentlichte Kohr einen bemerkenswerten Aufsatz mit dem Titel Einigung durch Teilung. Gegen nationalen Wahn, für ein Europa der Kantone . Darin kommt er zu dem Schluss, dass Demokratie sich nur in kleinen Einheiten entfalten kann. "Das ist natürlich eine lächerliche Idee, orientiert allein an dem Menschen als einem lebendigen, geistigen Individuum. Welteinigungspläne dagegen sind todernste Vorhaben und auf einen Menschen zugeschnitten, den man sich nur als kollektives Wesen vorstellt."
Die USA werden gelegentlich als Modell für einen künftigen Weltstaat angeführt. Auch dort hat man es für sinnvoller und praktischer gehalten, das große Nationalgebilde in 48 Staaten zu unterteilen. Seit dem Ende der Nachkriegsordnung zerfallen viele Nationalstaaten in kleine Teile, die Autonomie suchen. Diesen Prozess aktiv und in friedlicher Absicht durchzuführen (also anders als in Somalia), hat für mich die wahre Kraft einer Utopie. Die Nachteile der Kleinstaaterei routiniert zu verhindern, dafür sind Computer und Internet vorzüglich geeignet. Und sie wecken die utopische Sehnsucht nach Individuen, die fähig sind, ihren Willen vernünftig, zivilisiert und selbstbestimmt zu gestalten.
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Nach Hause
- Zuender. Das Netzmagazin
13 /
2007
ZEIT online