Nach Hause
Alles in Senfsoße
Was ist die Mehrzahl von Heimat? Ich habe nämlich zwei. Fünfter Teil der Zuender-Serie
Rückblickend ist die zweite Heimat gelbstichig, leicht verschwommen, kontrastarm. Flimmernd spult sie sich ab im Fernseher meiner Eltern, in der ersten Heimat. Sie ist mir erhalten geblieben, als Videomitschnitt von Channel Six . Heute, Heiligabend 2006, fünf Jahre danach, hat mein Vater sie rausgekramt: die Videokassette, die ich damals zu Weihnachten aus den Staaten schickte. Der Ton ist ziemlich schlecht.
"Singen die auf englisch?", fragt meine Oma von links, und ich sage "Ja", und "Guck mal, da in der zweiten Reihe stehe ich". Dort, hinter der Mattscheibe, in der zweiten Heimat, die so senfig gelb ist wie der Kartoffelsalat in der ersten. Vorhin sind wir mit der Bescherung fertig geworden, Oma hat mir Socken geschenkt, ein Zehner-Paket, fünf Paar schwarze, fünf Paar graue. Ich habe Oma dafür Tee geschenkt. Doch dann meinte mein Vater, wir könnten ja noch mal die Kassette suchen. Und das war eine gute Idee. Trotz der schlechten Qualität.
Rechts, in der ersten Heimat, ragt der Tannenbaum aus einem riesigen Berg Geschenkpapier. Vorn, in Heimat Nummer Zwei, schwenkt die Kamera über Gesichter, die ich vergessen habe. Bass, Tenor, Alt, Sopran, von ehrlichem Pathos ergriffen, Weihnachtslieder schmetternd. Ich habe damals in diesem Chor gesungen, bei den "Hymn Singers", während meines Austauschjahrs in den USA. Heute kann mich an keinen einzigen Namen erinnern, nicht mal an den unserer Pianistin, die so resolut in die Tasten greift, wie andere durchs Wattenmeer stampfen.
Channel Six, der Sender auf dem unser Konzert übertragen wurde, war wichtig für den ländlichen County . Denn dort sind die Straßen zu breit und die Häuser stehen zu weit auseinander, als dass es sich für die Einsamen lohnen würde, aus dem Fenster zu schauen – so, wie man das in deutschen Dörfern tut. Deshalb gab es den städtischen Amateursender zur Unterhaltung, mit zwei Kameras, einem Stativ und dem Nerd-Jungen aus dem Sophomore Jahrgang als Kabelträger. Damals war Fernsehen-Machen noch nicht jedermanms Sache. Person of the Year war der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani und YouTube noch nicht erfunden.
Als das Video längst schon wieder ausgestellt ist, meine Eltern in der Mitternachtsmesse sind und meine Omas im Bett, da hat sich ein Geruch in meiner Nase festgesetzt. Es ist der Geruch von der Kirche mit dem Teppichboden. Dort, wo vor fünf Jahren zu Weihnachten die "Hymn Singers" auftraten, der Chor auf der Kassette. Plötzlich sind da noch andere Gerüche: Der vom Minivan meiner Gasteltern. Der von sezierten Schweineföten im Anatomie-Unterricht. Der von Pancakes mit Maple Syrup.
Ich erinnere mich an Dan, der mich in seinem braunen Oldsmobile zum "Burning State"-Konzert mitnahm. Der sich wunderte, dass ich mich wunderte, dass diese Punkband in einem Veteranen-Clubheim spielt, wo die amerikanische Flagge hinter der Bühne hing, und noch ein paar Militärabzeichen. Dann verschwimmt das Weihnachten um mich herum und ich klappe den Laptop auf.
Dave von "Burning State" hat keine blauen Haare mehr und macht irgendwas mit Folk – keine Ahnung, wie das klingt, der Player auf seiner MySpace-Seite lädt nicht richtig. Dan spielt immer noch Schlagzeug in einer Hardcore-Band . Unter seinem Oben-Ohne-Foto stehen die Respektbekundungen 17-Jähriger Mädchen – vielleicht war es doch nicht so schlimm, dass das mit Brooke damals nicht geklappt hat.
Nur die "Hymn Singers" haben weder eine Internetseite, noch ein MySpace-Profil, noch Videos bei YouTube. Von ihnen bleibt mir das Video. Den Anderen schreibe ich dieses Weihnachten E-Mails.
Über die Feiertage wird es einsam in der Stadt: Alle fahren da hin, wo sie mal herkamen. Wo ihre Familie lebt und die alten Freunde. Heimat. Wie es dort ist und was das für sie bedeutet, werden Zuender-Autoren in den nächsten Tagen hier aufschreiben
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2006
ZEIT online