MUSIK

Geschichte wird gemacht

New Rave ist angeblich der heißeste neue Musiktrend der Insel. Oder die erfolgreichste PR-Kampagne des Jahres

Von Julia Reinecke

New Rave ist das Aufregendste, das in der Britischen Musik zurzeit passiert. So steht es zumindest im Jahresrückblick des New Musical Express (NME) , der auflagenstärksten Musikzeitschrift Englands. Damit klopft sich die Redaktion vor allem auf die eigene Schulter, denn sie selbst hat dieses neue Genre erfunden. Die Autoren bezeichneten damit Bands, die in ihre punkige Gitarrenmusik elektronische Elemente einfließen lassen – oder umgekehrt. Aber ist New Rave tatsächlich ein neues Genre? Oder nur eine weitere Strategie, um junge Bands zu hypen?

In jedem Fall profitieren die Bands von der Adelung durch den NME . Allen vorweg das Londoner Trio Klaxons . Sie surfen ganz oben auf der New Rave -Trendwelle und haben gerade einen Vertrag für drei Alben mit dem Universal-Label Polydor abgeschlossen. Bevor ihre erste Langspielplatte im Frühjahr 2007 erscheint, touren sie jetzt schon um die ganze Welt, damit alle mit diesem neuen Musikstil vertraut werden.

Hört man genau hin, klingt das, was laut NME "Indie Musik für immer verändern wird", jedoch nicht ungewohnt oder gar neu. Das Rezept von Bands wie Shitdisco und Klaxons lautet einfach: Man nehme ein bisschen New Wave aus den Achtzigern, eine gute Portion Post-Punk, beschleunige das um einige Beats pro Minute und schmecke alles mit Acid House ab. Das Resultat strotzt von Energie und ist am besten auf der Tanzfläche bekömmlich.

Tanzen war auch das zentrale Element der Raves, die seit Ende der Achtziger Jahre in London gefeiert wurden. Auf diesen illegalen Partys legten DJs einen neuen Sound aus Chicago auf, den so genannten Acid House. Besonderes Kennzeichen: das Zwitschern und Blubbern, das der Bass-Synthesizer Roland TB-303 erzeugte. Die Produzenten verzerren diese Töne im Laufe des Stückes immer mehr, bis am Ende nur noch ein schrilles Kreischen zu hören war – der Höhepunkt eines jedem Acid House-Tracks.

In dem New Rave-Stück Atlantis to Interzone von den Klaxons taucht dieser charakteristische Ton in Form eines Sirenen-Samples auf. Auch Shitdiscos Hit Disco Blood oder deren neue Single Reactor Party erinnern an die Rave-Musik von damals. Bei den genannten Beispielen ist die Verbindung zu Rave also nachvollziehbar. Aber was ist mit den anderen Bands die der NME plötzlich zu New Rave zählt? Welche Gemeinsamkeiten weisen beispielsweise Hot Chip , Datarock und The Gossip auf?

Alle mixen elektronische Musik mit Gitarrenmusik – so viel ist klar. Das ist jedoch nichts Neues, denn das haben Peaches und andere bereits vor Jahren unter dem Sammelbegriff "Electroclash" getan. Lange vor ihnen revolutionierten Kraftwerk die Musikszene mit ihrem elektronischen Klang. Vor denen war es die psychedelische Rock-Band Silver Apples , die in den Sechzigern elektronische Effekte in ihre experimentelle Rockmusik einfließen ließ.

Für Zeitschriften wie den NME zu schreiben, muss ganz schön langweilen. Jede Woche lobt man aufs Neue die jetzt wirklich beste Band des Jahres in den Himmel und verreißt die, die es doch nicht geschafft haben. Die Erfindung eines neuen Genres stellt da eine erfrischende Abwechslung dar. Außerdem winkt die Aussicht auf Ruhm: Denn wird das Genre von den Bands und anderen Medien angenommen, geht der Erfinder in die Musikgeschichte ein.

New Rave ist nicht der erste Genrebegriff, den Musikjournalisten erfolgreich ins Leben riefen. Alfred Hilsberg prägte 1979 nachhaltig den Ausdruck "Neue Deutsche Welle" durch seinen gleichnamigen Artikel in der damaligen deutschen Musikzeitschrift Sounds . Unter dem Begriff "Englands Post-Punk Avantgarde" fasste Greil Marcus 1980 in einem Rolling Stone -Artikel Bands wie The Raincoats und Essential Logic zusammen. Der NME etablierte Ende der Achtziger Jahre gleich zwei Genres: "Shoegazer" nannte er die Gruppen, die auf Grund der Bedienung von Effekt-Pedalen beim Spielen viel auf ihre Füße starren. "Madchester" hießen Bands wie die Stone Roses und Happy Mondays , die aus Manchester kamen und Indie-Rock mit elektronischem Acid House mischten.

Zum New Rave zählen die Happy Mondays aber trotzdem nicht. Was sind nun also die Gemeinsamkeiten? New Rave -Bands kommen alle aus England? Falsch: Datarock kommen aus Norwegen, The Presets aus Australien, CSS aus Brasilien und The Knife aus Schweden. Alle Gruppen sind Newcomer und haben, wenn überhaupt, erst ein Album veröffentlicht? Stimmt auch nicht: Das erste Album von The Knife erschien bereits im Jahr 2001. Im gleichen Jahr veröffentlichten The Gossip mit "That´s not what I heard" ihr erstes Album und auch Hot Chip veröffentlichten bereits 2004 den Vorgänger ihres aktuellen Albums "The Warning".

Vielleicht sind New Rave -Bands einfach jene, deren Kleidung von der Designerin Carri "Cassette Playa" Mundane entworfen wird? Die Londonerin ist die Haus- und Hof-Schneiderin einiger New Rave - Hauptdarsteller. Dabei bevorzugt sie Cartoons, Leopardendruck und Neon-Farben. Cassette Playa entwirft jedoch auch Kleidung für Musiker, die mit New Rave nichts zu tun haben. So bleibt es wohl dabei: Das einzige, was diese Bands eint, ist der Umstand, dass die NME -Redakteure sie New Rave genannt haben.

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49 / 2006
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