Medien

Zeitgeist recycelt

Die Achtziger sind noch nicht vorbei. Nach Mode und Musik kommt jetzt das Magazin der Eighties wieder: Tempo.

Oskar Piegsa schaut zurück

Obwohl sie Trendsetter waren, sahen sie richtig scheiße aus. Diese Frisuren! Diese Brillen! Diese Farben, diese Strickpullover, diese Jeansjacken, diese Hosenträger! Diese Beschimpfung ist als Einstieg dem Trend- und Pöbel-Magazin Tempo nicht nur angemessen, sondern beschreibt tatsächlich den ersten Eindruck, heute, 20 Jahre danach. Auf dem Erinnerungsfoto, das die Tempo -Redaktion vor ihrer Hamburger Redaktionsvilla anfertigen ließ, ist zu erahnen, dass Deutschland Mitte der achtziger Jahre von der rheinischen Provinz aus regiert wurde, Berlin irgendwo hinter Minenfeldern im Niemandsland lag und der ganz heiße Kram damals ausgerechnet aus Wien kam.

Von dort holte der Verleger Thomas Ganske im Jahr 1986 den Journalisten Markus Peichl, der mit dem Monatsmagazin Wiener nicht nur in Österreich auf sich aufmerksam gemacht hatte. Dessen Konzept, Autoren "ich" sagen zu lassen und bei der Heftgestaltung die Form dem Inhalt vorzuziehen war so neu, dass man dafür einen eigenen Namen erfinden musste. Zeitgeist-Magazin nannte man das, was Markus Peichl als Chefredakteur da machte, und ein solches Zeitgeist-Magazin sollte er nun auch in Deutschland gründen: Tempo .

Heute sind die Regale des Bahnhofskiosks kaum groß genug, um all die Lifestyle- und Szeneblätter unterzubringen, die die Verlage dort platziert sehen wollen. Doch 1986 war diese Entwicklung noch nicht abzusehen. "Die vermutete Marktlücke ist wahrscheinlich nicht so groß, dass dort gleich zwei neue ‚Blätter für den Zeitgeist’ groß werden können", schrieb ein Branchenblatt damals. Entsprechend nutze Tempo Ellenbogen und Faustschläge, um sich einen Platz zwischen den etablierten Medien frei zu boxen und einen Namen zu machen.

Über Kai Diekmann , damals Vize-, heute Chefredakteur der Bildzeitung , schrieb das Magazin, er sei ein "dreißigjähriger Yuppie", der "zum Frühstück vor Stress kotzt" und von Kanzler Helmut Kohl deshalb so geschätzt werde, weil seine Augen wie ein Zauberspiegel Dicke dünn und Kleine groß machten. Noch unverblümter als ihr Gemahl wurde die Kanzlergattin von Tempo kommentiert: "Hannelore Kohl sieht aus wie schlechtes LSD".

Die damals noch allgegenwärtigen Achtundsechziger hätten sich über den anti-autoritären Nachwuchs freuen können. Stattdessen waren sie entsetzt. Die Zeit schrieb vom "Bazillus", der die Jugend mit der "Zeitgeist-Epidemie" infizierte, von der "Wiener Krankheit", die "ihren Opfern mit süßlichen Sekreten Augen und Ohren verklebt". 1988, zum zweijährigen Tempo -Bestehen und 20jährigen Jubiläum der Studentenbewegung, pöbelte Markus Peichl zurück. "Sie halten das Feuilleton besetzt wie ein verstopftes Klo", schrieb der Chefredakteur über die Achtundsechziger. Auch mit dem Personal der Altvorderen ging Tempo alles andere als pfleglich um. Als Zeit -Autor Klaus Pokatzky für Tempo einen SPD-Wahlkampfmanager porträtierte, ergänzte Markus Peichl das anerkennende Porträt um mehrere spöttische Passagen. Pokatzky klagte gegen den verfremdeten Abdruck und Markus Peichl musste zwei Richtigstellungen veröffentlichen. Statt es dabei zu belassen, schrieb er in der nächsten Ausgabe einen gefälschten Leserbrief, in dem Pokatzky beschimpft wurde. Als dieser wieder klagte, unterschrieb Markus Peichl eine Erklärung, den Brief nicht selbst verfasst zu haben. Und prompt lief der nächste Prozess gegen ihn, wegen Falschaussage in einer eidesstattlichen Erklärung.

Von diesen Anekdoten gibt es noch mehr. Logisch, denn ihre Protagonisten sind Journalisten, es war also immer jemand zum Mitschreiben da. So ist überliefert, dass Tempo brave Journalistenschüler in den Wahnsinn trieb, Markus Peichl bereits im ersten Jahr vier Chefs vom Dienst verschliss und Tempo -Autor Helge Timmerberg mit einem Stein die Küchenscheibe von Götz George einschmiss, um ein Interview zu erzwingen. Wild waren die Achtziger – zumindest in der Tempo -Redaktion.

Pünktlich zum Jahr 1989 kam dann von Markus Peichl die Ansage: Die Achtziger sind tot, die Neunziger werden ein Sinnjahrzehnt – wenn ein SPD-Plakat genauso aussieht wie ein Zeitgeistmagazin, dann ist genug Chaos gestiftet, um zur Abwechslung ein bisschen Ordnung zu schaffen. Der Richtungswechsel war der Anfang von Ende — Sinnjahrzehnt hin oder her, Tempo überlebte die Neunziger nicht.

Inzwischen ist Markus Peichl würdevoll gealtert, trägt Glatze und Anzug und ist insofern für Frisur- und Klamottenwitze ungeeignet. Zwischenzeitig saß er dort, wo man nicht grade Deutschlands kreative Elite erwartet — bei der ARD, und schlimmer noch, bei Beckmann — bevor er sich vom Spiegel für die Konzeption eines neuen Magazins verpflichten ließ. Als Vorsitzender der Lead-Academy ist zwar immer noch so etwas wie die höchste Geschmacksinstanz in Zeitschriftenfragen. Doch statt die Trends zu setzen, zeichnet er sie nun im Nachhinein aus.

Nicht nur Markus Peichl, auch viele andere der jungen Wilden von damals sind heute etwas weniger jung, etwas weniger wild und dort angekommen wo sie hinwollten: oben. Maxim Biller schreibt Bücher, die verboten werden. Christian Kracht schreibt Bücher, die Bestseller werden. Bettina Röhl schreibt Bücher über ihre Eltern . Moritz von Uslar erfindet ein neues Interview-Genre und arbeitet für den Spiegel. Christoph Dallach auch. Thomas Hüetlin auch. Die meisten anderen auch, oder für den Stern , die Qvest , den Freund , Monopol , FAZ , taz , Süddeutsche , et cetera. Sind die Tempo -Redakteure das Abführmittel, das die Feuilletons wieder frei gemacht hat?

Jedenfalls kommt niemand auf die Idee "zwanzig Jahre danach" die Sechsundachtziger so zu beschimpfen, wie es Peichl seinerzeit mit den Achtundsechzigern getan hatte. Es bleibt dem Chefredakteur selbst überlassen, zusammen mit Thomas Ganske am ersten Dezember so etwas wie das Anti- Tempo zu veröffentlichen. Ein Heft, das gemacht wird von den etablierten Kräften der alten Avantgarde. Ein Heft, das nicht zu Pöbeln braucht, weil ihm Aufmerksamkeit garantiert ist. Ein Heft, das sich nicht an den Eliten abarbeitet, sondern von ihnen gelesen werden wird. Ein Heft, das keine Chefs vom Dienst verschleißen wird, keine Trends begründen wird, keine Richtungswechsel brauchen wird: Die einmalige Tempo -Sonderausgabe zum zwanzigjährigen Jubiläum.

Auch schön:

Berlin braucht die Spex nicht - Wieso sie trotzdem hin soll

Der Punk ist schuld - Intro -Chefredakteur Thomas Venker im Interview

Drüber reden? - Dieser Artikel wird hier im Forum diskutiert

Nach Hause - Zuender. Das Netzmagazin

32 / 2006
ZEIT online