Armut

Leben wie ferngesteuert

Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas. Die Stadt La Paz ist noch ein bisschen ärmer. Miro schlägt sich hier als Schuhputzer durch.

Von Till Hilmar

Mit der schwarzen Socke über dem Kopf sieht Miro aus, wie ein Terrorist. In seiner Holzkiste trägt er giftige Substanzen durch die bolivianische Stadt. Passanten lässt er nicht in Ruhe, er verfolgt sie. Aber Miro will niemandem etwas zu Leide tun. Und sein Gesicht hat er nur zu seinem eigenen Schutz verhüllt.

Miro ist achtzehn Jahre alt und Schuhputzer in La Paz. Er ist einer von den unzähligen, die schon seit frühem Kindesalter zum Erhalt der eigenen Familie auf der Straße arbeiten. Miro war Schuhputzer, Busschreier, Straßenverkäufer, dann wieder Schuhputzer. Sechs Tage in der Woche, zwölf Stunden pro Tag. Mit sieben Jahren begann er seine Karriere in den Gassen der Stadt. Nicht, dass er sich das ausgesucht hätte.

Bolivien ist eines der ärmsten Länder der Welt, aber auch eines, das so schnell wächst wie wenige sonst. In ein paar Jahren wächst hier eine neue Generation in den Städten heran, zahlreich, aber mit geringen Chancen auf Bildung. Mehr als die Hälfte der bolivianischen Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre.

Etliche Kinder arbeiten auf die eine oder andere Weise, so genau weiß das niemand. Arbeit zu finden ist für alle schwer. Ohnehin sind es sind nicht die Schuhe der Reichen, die jeden Tag an Miro vorbeischreiten. La Paz ist, wie ganz Bolivien, von extremer Armut geprägt. Nur, dass hier sogar die üblichen Klassenunterschiede verblassen.

Wie Miro hatte auch "Polierer" Javier keine Wahl. Javier ist noch keine Zwanzig und hat schon eine eigene Familie. Der Tod des eigenen Vaters hat ihn auf die Straße getrieben, und von da in sein neues Zuhause. Javiers Leben steht unter keinem guten Stern. Er erzählt von den Strapazen den Straßenlebens und der Gnadenlosigkeit älterer "Polierer" gegenüber ihren jüngeren Konkurrenten. Javier hat nur ein Ziel: "Meine Kinder sollen niemals mein Leben leben müssen."

Armut, das heißt nicht nur Überleben auf der Straße, die ständige Suche nach Nahrung, oder Familienverhältnisse, die aus der Reihe tanzen. Neben materieller Not bedeutet Armut auch, keine freie Willensentscheidungen über das eigenen Leben treffen zu können. Armut heißt, fremdbestimmt zu sein. Um sich dagegen zu wehren, hat Javier eine Zeitung für Straßenkinder gegründet. Darin schreibt er von Schuhputzern, die Polizei werden wollen, um wahre Gerechtigkeit auf die Strassen La Paz’ zu bringen.

Miro dagegen ist glücklich. Selbst wenn er nicht zur Schule gehen kann – sobald er abends heimkommt, lernt er. Miro will nicht ewig Schuhe putzen, sondern vielleicht in ein paar Jahren auf die Universität gehen. Für die, die es bis dahin geschafft haben, klingt das nach ganz normalen Lebenslauf.

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41 / 2006
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