Graffiti

Täglicher Textkampf

Graffiti ist tot? Nö. Die Straßenkunst ist alltagstauglich geworden - ihr rebellisches Image hat sie aber nicht verloren, findet Crisse Küttler

"Graffiti galten lange als künstlerisch wertvoll - inzwischen gehen die Kritzeleien den meisten Menschen auf die Nerven", schrieb die Süddeutsche Zeitung Anfang der Woche . Es wird vom "Ende des Textkampfes" berichtet und davon, dass Graffiti öde geworden sei. Hat sich die öffentliche Meinung tatsächlich gedreht? Sind Tags künstlerisch wertlos?

Diese Meinung vertritt zumindest Karl Hennig, Vorsitzender des Vereins Nofitti . "Die Medien beziehen heute eine andere Position. Noch vor wenigen Jahren hatten sie Graffiti als Jugendkunst verherrlicht", sagt er und zitiert darüber hinaus die Kriminalitätsstatistik - es würden immer mehr Anzeigen erhoben. Außerdem sei das Engagement der Bürger zur Beseitigung von Graffiti enorm gestiegen. Diesen Wandel der öffentlichen Meinung hätten nun endlich auch die Sozialdemokraten bemerkt: "Die SPD hat in ihr Wahlkampfprogramm erstmalig die Bekämpfung des Graffiti-Vandalismus aufgenommen."

Oberstes Ziel seines Vereins ist es, das Stadtbild Berlins zu erhalten. Auslöser für die Gründung von Nofitti war die Wiedervereinigung, denn mit ihr kamen nicht nur die Fassadensanierungen sondern auch die Tags nach Ostberlin. Und den als Schmierereien empfundenen Schriftzügen folgten Müll und Vandalismus - dies besagt zumindest die Broken-Windows-Theorie , nach der bereits ein zerbrochenes Fenster in einem leerstehenden Haus zur Verwahrlosung des gesamten Wohnblocks führen kann - oder eben eine getagte Wand. Allerdings ist dieser Effekt äußerst umstritten.

Jo Irrläufer und Nalk Ivique nehmen eine konträre Position ein. Sie haben das Graffiti-Museum gegründet, mit dem Anliegen, sich dem Thema intellektuell und künstlerisch zu nähern. Von einem Wandel der öffentlichen Wahrnehmung seit der Gründung des Museums 2001 haben sie nichts gespürt - und das nicht nur, weil auch Graffiti eine Art der öffentlichen Meinungsäußerung ist.

Vielmehr stellt sich die Frage: "Für wen ist Graffiti öde geworden?" Als am 21.7.1971 die New York Times den ersten Artikel über einen Writer veröffentlichte, wurde der Mythos Graffiti begründet. Doch jetzt, fast auf den Tag genau 35 Jahre später, wäre einer wie Taki 183, der sein Pseudonym an die Wände seines Viertels schrieb, keine Zeile mehr wert. "Die Medien sind nur am Extremen interessiert", meint Jo. Das Graffiti-Museum beschäftigt sich aber mit dem Alltäglichen. Dem "gehegten und dem wilden Stadttext", wie sich Nalk ausdrückt.

Eine Art ihrer Herangehensweise sind Stadtspaziergänge , die das Graffiti-Museum anbietet. So waren sie zuletzt mit einer Seniorengruppe aus dem Berliner Bezirk Kreuzberg unterwegs, um zu sehen, ob man die Straße als Zeitung lesen könne. Zum einen die gehegten Texte, Straßenschilder und Werbung etwa, und zum anderen die Tags. Was verraten sie über die Sprachmelodie, in welcher Höhe wurden sie angebracht, in welcher Stimmung war der Autor, als er sie verfasst hat. Am Seniorenheim beispielsweise stand "Maxim" mit der Fußnote "rest in peace". Ist Maxim gestorben oder handelt es sich um ein Palindrom, eine Wortspiegelung? Steht Maxim für etwas Großes?

Der Spaziergang war Teil eines Workshops einer Künstlerin, der versuchte, Jüngere mit Älteren zusammen zu bringen. Und die Jüngeren sollten den Älteren etwas beibringen. Zum Beispiel welche poetische Kraft Schriftzüge besitzen. Und welche Sinne sie ansprechen können. Ihr Fazit ist, dass Graffiti nicht prinzipiell auf Ablehnung stößt: "Die Senioren hatten keine Probleme mit den Schriftzügen an den Wänden und haben sehr gerne mit uns die Fassade von heute gelesen", sagt Jo.

Ist Graffiti also nun öde geworden und hat sich die öffentliche Meinung gedreht? Der Soziologe Reinhold Sackmann, Professor an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg hat eine Studie über "Graffiti zwischen Kunst und Ärgernis" gemacht, die möglicherweise der Wahrheit am Nächsten kommt. Eine Reihe von Testpersonen hat neun Grafitti-Bilder zur Ansicht bekommen und sollte diese nach ihrer Ästhetik beurteilen. Ihre Bewertung stimmte dabei mit denen der Writer überein. "Das Publikum kann künstlerische Qualität anerkennen. Trotzdem ist die Mehrheit der Meinung, Graffiti solle bestraft werden", fast Sackmann seine Ergebnisse zusammen. Doch neu ist diese Haltung nicht - woher hätte Graffiti sonst sein rebellisches Image?

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20 / 2006
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