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Liebe ist ekelhaft

Andere schauen Horrorfilme, ich ergötze mich an dem in Worte gefassten Leid Anderer und bin froh, dass es nicht das meine ist. Ich lese Zeruya Shalevs Roman Liebesleben

Von Wiebke Sauk

Dieser Platz ist also dazu da, ein Buch zu beschreiben, das mein Leben verändert hat. Bisher hat das glücklicherweise noch keines getan. Die meisten Bücher, die irgendwo in mir geblieben sind, hätten Schatten, Schande, auf jeden Fall nichts Gutes über mich gebracht. Während andere sich absichtlich Gewalt, Blut und Schreckensmomente im Kino anschauen, ergötze ich mich an dem in Worte gefassten Leid anderer Menschen und bin froh, dass es nicht das meine ist. Schaue ich auf Bestsellerlisten, weiß ich, dass ich mit dieser perversen Neigung nicht allein bin und bin vorerst beruhigt.

Doch allein beim erneuten Überfliegen einzelner Passagen aus Zeruya Shalevs Liebesleben Jahre später versteift sich mein Nacken. Dabei hat mein Leben – ich muss es noch mal unterstreichen – nichts mit dem Ja’aras zu tun. Eine Frau, jetzt in meinem Alter, damals, als ich Liebesleben zum ersten Mal las, vielleicht zehn Jahre älter, lebt eine sanfte, aber langweilige Liebe. Ihr Ehemann kann buchstäblich nicht gegen den Mann anstinken, der ihr Leben verändert, Gott sei Dank nicht meines. "…ich sah vor mir seine Knöpfe, die einer nach dem anderen aufgingen, bis er das Hemd ausgezogen hatte, wobei ein scharfer Geruch von seinen glatten Achselhöhlen ausging, der komprimierte Geruch nach verbrannten Tannennadeln…"

Der Mund ihres neuen Liebhabers Arie stinkt nach Schuh, sein Urin nach zuviel Kaffee, sein Schlafzimmer nach Krankenhaus und sein Schwanz nach kraftlosem Sperma. Er ist ein alter Mann, ein Studienkollege von Ja’aras Vater. Wenn er auch schöner, kräftiger und sexuell aktiver ist als andere seines Jahrgangs, so ist er doch gleichzeitig von einer Kaltherzigkeit, dass mir der Hals brennt. Und die vollkommen hörige Ja’ara von einer Dummheit, deren Form und Farbe ich mir schon damals  genau gemerkt habe, damit ich sie erkenne und sofort erschlagen kann, sollte sie sich mir irgendwann mal nähern.

"… weißt du, als ich dich dort mit Schaul gesehen habe, war es das erste Mal, dass ich dich richtig wahrgenommen habe, das erste Mal, dass ich mich zu dir hingezogen fühlte." Ja’ara spürt den Schmerz und wartet auf den nächsten. Sie würde dritte, vierte und fünfte Wangen hinhalten. Ich bin live dabei und wage nicht zu widersprechen.

"... ich dachte, wie angenehm es doch für mich wäre, mit ihm zu leben, denn ich wüsste immer, dass er mich nicht liebt, und ich müsste nicht diese ständige Spannung ertragen, was wäre, wenn er plötzlich aufhören würde, mich zu lieben, und ich merkte, dass ich einen großen Vorteil vor allen Frauen der Welt hatte, denn mich liebte er wirklich nicht."

Ja’ara lässt sich beschimpfen, schlagen und von Aries Bekanntenkreis vögeln. Der Wahnsinn gipfelt in einer widerlichen Verstrickung ihrer Eltern in das Elend. Und als ich merkte, wie ich genau wie Ja’ara ihren gutherzigen Ehemann für seine Schwäche verachte, bin ich ganz unten angelangt. Das ganze Buch ist eine Demütigung, 368 Seiten Niedertracht, Machtmissbrauch, Vertrauensbruch und Selbstzerstörung. Es beginnt mit Lügen und endet in Einsamkeit. Dann endet die Ausgabe des Berliner Taschenbuchverlags auch noch mit einem makabren Schlussgag: "Lesen Sie weiter im zweiten Band von Zeruya Shalevs Trilogie der modernen Liebe…

Wenn das moderne Liebe ist, will ich die altmodische, biedere, konventionelle, zurückgebliebene, wenn es geht, die älteste und verstaubteste, die sie haben, bitte. Der zweite Band der Trilogie heißt Mann und Frau, der dritte Späte Familie. Letzterer steht in meinem Bücherregal und provoziert mich seit einem Jahr mit seinen großen, gelben Lettern, aber er muss warten, bis ich in Stimmung bin.  Und die Verfilmung von Liebesleben , die im kommenden Frühjahr in die Kinos kommen soll, werde ich mir natürlich auch anschauen. Wie gesagt, andere mögen Horrorfilme.

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44 / 2006
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