Fußball

Meine große Liebe

Fan des FC Bayern zu sein, ist nicht leicht. Manche sind es sogar heimlich – wie Campino von den Toten Hosen

Die Kolumne von Markus Kavka

Der Ball kam auf etwa anderthalb Metern Höhe herangeflogen. Für einen Kopfstoß stand ich ungünstig, aber wir lagen kurz vor Schluss hinten und ich musste irgendwie an die Kugel rankommen und sie reinhauen. Ich stand mit dem Rücken zum Tor und ließ mich nach hinten wegfallen. Mit dem rechten Fuß holte ich aus und traf den Ball voll. Wie an der Schnur gezogen sauste er in den Winkel. Wahnsinn, ein Fallrückzieher!

Wie Klaus Fischer, dessen Fallrückziehertor gegen die Schweiz 1977 zum Tor des Jahres gewählt wurde. Ich war 11 Jahre alt, als ich auf den Spuren Klaus Fischers wandelte. Das Spielfeld war der etwa 20 Quadratmeter große Garten meines Kumpels Manfred, das Tor war das etwa eine Meter fünfzig hohe und drei Meter breite, mit Maschendraht überzogene Gartentor.

Aber egal, es war ein Tor, und da einen der Platzwart des Fußballvereins, in dem man selbst Mitglied war, sofort verscheuchte, wenn man sich außerhalb der Trainingszeiten Zutritt verschaffte, hatte man in Ermangelung von Bolzplätzen keine andere Möglichkeit, als den Nachbarsgarten umzupflügen. Bei uns im Garten ging´s nicht, weil man das Tor nur an jener Seite platzieren konnte, hinter der, nun ja, das Wohnzimmerfenster des anderen Nachbarn lag. Irgendwann wurde meinen Eltern der Spaß zu teuer.

Man vergisst diese Momente nie, in denen die Liebe zum Fußball entsteht. Ich kann mich an nicht mehr viele Dinge aus meiner Kindheit erinnern, ist ja auch schon eine ganze Weile her, aber ich weiß noch, wie ich mehrmals pro Woche mit meinem kleinen Bruder fünf Kilometer ins nächste Dorf geradelt bin, weil es dort ein richtiges 7,32 Meter breites und 2,44 Meter hohes Tor gab. Allerdings ohne Netz, weswegen wir ein großes Fischernetz klauen mussten, um es dran zu hängen, weil dieses Geräusch, wenn der Ball ins Netz klatscht, eins der schönsten der Welt ist.

Ich weiß auch noch, wie es uns wurmte, dass wir Ende der 70er Jahre unsere Eltern immer noch nicht davon hatten überzeugen können, dass diese 10-Mark-Zwei-Streifen-Noppenstollen-Treter und der Billo-Lederball keine Ausstattung für Hochtalentierte waren. Ich musste 14 werden, bis ich drei Streifen mit Schraubstollen an meinen Füßen tragen durfte, und in den ersten vier Wochen nach ihrer Anschaffung trug ich diese Fußballschuhe vor lauter Glück sogar noch heimlich im Bett.

Wir spielten jeden Tag, bis die Sonne unterging. Nach dem Abendbrot ließ einen der Fußball allerdings keineswegs los, der Kicker wollte auswendig gelernt werden, bevor man jede Zeile und jedes Foto des Lieblingsvereins ausschnitt und in einem Ordner ablegte.

Ich glaube, ich war sechs, als ich merkte, dass der FC Bayern München mein Leben lang mein Verein sein würde. Als jemand, der in der Nähe von Ingolstadt aufwuchs, hatte man, was die geographischen Koordinaten betraf, die Wahl zwischen dem 1. FC Nürnberg, dem TSV 1860 München und dem FC Bayern München. Ich finde nicht, dass man da lange überlegen muss.

Als ich etwa zwölf Jahre alt war, ging es so richtig mit dem Fankult los. Ich trug das Trikot sogar in der Schule, an kälteren Tagen, also unter 20 Grad, wurde auch noch der rot-weiße Schal umgehängt, mein Zimmer war tapeziert mit Postern der Spieler, und wenn ich mit meinem Papa ins Olympiastadion nach München fuhr, hatte ich immer einen Block und einen Stift für Autogramme dabei. Beim ersten Mal dachte ich tatsächlich, dass ich beides einem Ordner überreichen könnte, auf dass dieser mal eben Karl-Heinz Rummenigge unterschreiben lässt. Da wusste ich noch nicht, dass zwischen mir und dem Spielfeld ein hoher Zaun, ein tiefer Graben und eine sehr breite Tartanbahn liegen sollten.

Wenn ich nicht im Stadion war, und das kam sehr oft vor, denn München war weit, verfolgte ich im Bayerischen Rundfunk die Radiosendung Heute im Stadion . Meistens in der Badewanne, denn am Samstagnachmittag war für den dreckigen Lauser traditionell Großreinemachen angesagt. Nicht selten wurde das Wasser kalt, weil ich vor Aufregung außer Stande war, warmes nachzulassen. Auch die Haut wurde schrumplig, weil es natürlich nicht ging, die Wanne vor dem Abpfiff zu verlassen.

Nicht alle Jungs mochten Fußball, und selbst die, die Fußball mochten, waren unerklärlicher Weise oft nicht Fan eines Vereins. Ich litt im zarten Alter von 14 Jahren dagegen schon so sehr mit, dass ich vorm Fernseher heulend zusammen brach, als Bayern 1982 das Finale im Europapokal der Landesmeister mit 0-1 gegen Aston Villa verlor.

Potenziert sollte ich einen derartigen Moment noch einmal erleiden. Nicht vorm Fernseher, sondern live im Stadion Nou Camp in Barcelona, und zwar am 26. Mai 1999. Ein Spiel, das Geschichte geschrieben hat, weil es das in einem Europacupfinale noch niemals vorher gab, dass eine Mannschaft in der Nachspielzeit das Spiel drehte.

Meine Freunde und ich hatten blendende Laune. Bayern führte seit der 6. Minute 1-0, und bis zur 90. Minute dachte man nicht daran, dass sie den Pott noch aus der Hand geben würden. Wir freuten uns schon still und heimlich, denn zeigen konnten wir es nicht so richtig, weil wir über dunkle Kanäle nur noch Karten für den Manchester-United-Block bekommen hatten.

Dann kam die Ecke in der 91. Minute und zwei Minuten später noch mal eine. Der Block rastete komplett aus, über unseren Köpfen sprangen und krochen ManU-Fans, wir begraben unter ihnen, heulend. Eine gefühlte halbe Stunde nach dem Abpfiff saßen wir immer noch schluchzend da, dann gingen wir einfach.

Irgendwo hin. Keiner konnte und wollte mehr denken oder sich daran erinnern, wo unser Hotel war. Bis fünf Uhr morgens irrten wir mit verquollenen Augen durch die Stadt, bis endlich mal einer auf die Idee kam, jemanden nach dem Weg zu fragen. Dann war das auch noch ein Schotte! Der hatte zwar mit Fußball nichts am Hut, aber er war immer noch ein Landsmann von Alex Ferguson, dem Trainer von Manchester United. Wir fingen wieder an zu flennen.

Dieses Trauma wurde ich erst beim Champions-League-Finale 2001 wieder los, obwohl es lange Zeit nicht danach aussah. Bayern war gegen den FC Valencia schon in der 3. Minute durch einen zweifelhaften Handelfmeter in Rückstand geraten, Mehmet Scholl vergab kurz darauf ebenfalls per Elfmeter die große Chance zum Ausgleich, erst in der 50. Minute gelang Stefan Effenberg selbiger. In der Verlängerung tat sich nichts. Im Elfmeterschießen hielt Oliver Kahn wie in Trance drei (!) Strafstöße. Dieses Mal heulte ich vor Glück.

Leute, die sich nicht für Fußball interessieren, haben wahrscheinlich schon längst aufgehört, diese Zeilen zu lesen. Man hat sie, oder man hat sie nicht, diese Leidenschaft. Klar ist: Man kann sie niemandem an die Backe schreiben oder reden.

Die Liebe zu einem Fußballverein ist eine Liebe fürs Leben. Man geht durch dick und dünn. Schluss gemacht wird nicht. Ich weiß, dass ich Fan des meistgehassten Klubs Deutschlands bin. Aber hey, viel Feind, viel Ehr! Es prallt an mir ab, dieses Gelaber über die reichen Schnösel-Bayern, die den anderen die besten Spieler wegkaufen. Oder die Behauptung, dass Bayern-Fans nicht leidensfähig sind, weil sie nie einen Abstieg ihrer Mannschaft erleben mussten, denn wer so etwas sagt, wird nie die Dimension des 26. Mai 1999 begreifen.

Letzten Endes sind all diese Animositäten eh nur durch Neid motiviert. Wer ehrlich ist, wird sagen, dass der FC Bayern nicht als wohlhabender und erfolgreicher Verein auf die Welt gekommen ist. Sie mussten erst in die Bundesliga aufsteigen und haben sich alles, was danach kam, rechtschaffen und intelligent erarbeitet. Seit Jahren ist der FCB nahezu im Alleingang dafür verantwortlich, dass Deutschland in der UEFA-Fünfjahreswertung noch vor Rumänien und Portugal ist. Wahrscheinlich würde es auch den FC St. Pauli nicht mehr geben, wenn nicht ausgerechnet der Klassenfeind ein Benefiz-Spiel bestritten hätte, das 270.000 Euro in die leeren Kassen spülte. Dazu kommen Sofortspenden und längerfristige Hilfsmaßnahmen für die Flutopfer in Südostasien und Sachsen sowie viele andere wohltätige Projekte, die gerne übersehen werden.

Ich gebe zu, dass der FC Bayern zumindest hinsichtlich seiner Außenwirkung mit Leuten wie Uli Hoeneß oder Oli Kahn grenzwertige Charaktere in seinen Reihen hat, aber gerade diese beiden stehen, wenn man es positiv betrachtet, auch dafür, wie sehr man Fußball leben kann.

1979, als Hoeneß Manager wurde, stand der FC Bayern durch Misswirtschaft und andere Unregelmäßigkeiten seiner Vorgänger vor dem Bankrott. Sein erster Spielerkauf war sein Bruder Dieter, für 175.000 Mark. Während der späten 70er und frühen 80er Jahren gaben einige andere Bundesliga-Vereine deutlich mehr Geld für Transfers aus als Bayern München. Und doch wurde der Verein zwischen 1985 und 1990 fünf Mal deutscher Meister.

Niemand konnte sich diese Dominanz erklären, nur Werder Bremens damaliger Manager hatte eine an den Haaren herbei gezogene Erklärung parat: Geld. Dabei waren die Bayern 1984 durch den Verkauf Karl-Heinz Rummenigges an Inter Mailand gerade mal ihre Schulden losgeworden, von Reichtum konnte zu dieser Zeit also noch längst keine Rede sein. Der kam erst viel später, und er kam wegen des Erfolgs und nicht durch einen russischen Energiekonzern oder bemitleidenswerte Kleinaktionäre.

Dennoch sah sich eine der erfolgreichsten Bands Deutschlands 1999 sogar dazu genötigt, einen Anti-FCB-Song aufzunehmen. In Bayern von den Toten Hosen heißt es: „Was für Eltern muss man haben, um so verdorben zu sein, einen Vertrag zu unterschreiben bei diesem Scheißverein?!“ Nun, einen Vertrag hat dort zum Beispiel auch Mehmet Scholl unterschrieben, erwiesenermaßen ein Fußballgott, spielerisch wie auch menschlich tiptop.

Was heimlich wohl auch Campino so sah, sonst hätte er sich beim Echo 2005 nicht so lange und herzlich mit Mehmet unterhalten und sich dabei auch noch fotografieren lassen. Bis heute konnte er zwar verhindern, dass dieses Foto an die Öffentlichkeit geriet, jedoch wird durch diese Sache klar: Irgendwie sind sie alle – auch die größten Bayern-Hasser – ein bisschen Campino.

Am gestrigen Donnerstag spielte der FC Bayern in Aberdeen. Ich hab mich mal wieder maßlos über die haarsträubenden Abwehrfehler geärgert, die es den Schotten ermöglicht haben, aus drei halben Chancen zwei Tore zu machen. Bayern wird im Rückspiel weiter kommen, insofern war das alles nicht so dramatisch. Nicht so schlimm wie die entscheidenden Niederlagen, durch welche die Mannschaft in den vergangenen Jahren aus der Champions League ausschied. Da sind dann Momente, die mich so traurig und wütend machen, dass ich mir dabei stets wünsche, ich würde mich nicht die Bohne für Fußball interessieren. Aber das wird niemals passieren, und das ist auch gut so.

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08 / 2008
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