Feminismus

Das Leben der Anderen

Der junge Feminismus in Deutschland war bislang eher eine Sache der weißen Mittelschicht. An Migrantinnen hat dabei niemand gedacht. Ein Interview mit Sidar Demirdögen vom Bundesverband der Migrantinnen in Deutschland.

Fragen von Chris Köver

Zuender: Ob "Alpha Mädchen", Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" oder Debatten im Feuilleton: In Deutschland wird zur Zeit viel von einem "Neuen Feminismus" geredet. Wie erklären Sie sich, dass Migrantinnen in dieser Debatte bisher weitgehend unerwähnt bleiben?

Sidar Demirdögen: Ein großes Problem ist, dass Migrantinnen in der Regel nicht als Frauen wahrgenommen werden. Wenn über sie gesprochen wird, dann nur unter dem Thema "Integration". Ihre Identität als Frau verschwindet sozusagen hinter der Identität als Migrantin. Wenn sie überhaupt mal auftauchen oder zu Wort kommen, dann nur als Opfer – etwa in den Debatten um Zwangsverheiratung oder Ehrenmorde. Als Bestandteil einer gesamtdeutschen Frauenfrage, wenn es zum Beispiel darum geht, mehr Lohn zu fordern oder eine gerechtere Verteilung von Hausarbeit, werden sie nicht gesehen. Schon gar nicht als Mitstreiterinnen im Kampf für mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Zuender: Die junge Feministinnen in Deutschland fordern unter anderem die gleichen Aufstiegschancen und genauso viel Lohn wie Männer. Sind das auch die Probleme von Migrantinnen?

S.D.: Grundsätzlich ja. Allerdings spielen sich die Probleme auf einer anderen Ebene ab: Da geht es seltener um hoch qualifizierte Frauen, die schon fast alles erreicht haben und eher um gut ausgebildete Frauen, die aus dem Ausland nach Deutschland einheiraten, hier trotz ihrer Qualifikation keine Stelle bekommen und in den Niedriglohnbereich abgeschoben werden. Dieses Problem haben auch deutsche Frauen, aber häufiger betrifft es Migrantinnen.
Frauen arbeiten statistisch gesehen mehr als Männer. Aber wenn man genau hinschaut, sind sie vor allem in Teilzeit- und Niedriglohnbereich beschäftigt – arbeiten also mehr, verdienen aber weniger. Der Anteil an Migrantinnen in diesen Bereichen ist besonders hoch.

Zuender: Mit welchen anderen Formen von Benachteiligung haben Migrantinnen zu kämpfen?

S.D.: Migrantinnen haben auch geringere Chancen auf Bildung. Neue Studien zeigen, dass viele Mädchen aus Einwandererfamilien durchaus ambitioniert sind, sich weiterzubilden. Sie scheitern aber, weil sie zum Beispiel keine Lehrstellen bekommen. Auch das ist wieder ein Problem, das nicht nur migrantische, sondern auch deutsche Mädchen betrifft. Migrantinnen haben aber noch stärker mit bestehenden Vorurteilen zu kämpfen: Wir hören von jungen Frauen, die im Bewerbungsgespräch gefragt werden, ob sie Kinder bekommen wollen. Da herrscht nach wie vor das Bild der türkischen Frau, die zwar mit 17, 18 einen guten schulischen Abschluss macht, aber mit 22 entweder zwangsverheiratet wird oder aus eigener Entscheidung sehr jung Mutter wird.

Es gibt auch Fälle, in denen die Familie eine Rolle bei der Benachteiligung der Mädchen spielt, wo ein Vater sagt: Mehr als Hauptschule brauchst du nicht. Aber das ist nicht die Regel.

Zuender: Wünschen sie sich mehr Solidarität von Seiten der jungen Feministinnen, wie es jüngst von der Journalistin Mely Kiyak in der ZEIT gefordert wurde?

S.D.: Natürlich brauchen wir Solidarität, aber kein Mitleid. Das wird häufig miteinander verwechselt. Es geht doch darum, endlich zu akzeptieren, dass wir alle Frauen sind. Es muss eine Selbstverständlichkeit sein, dass – wenn über Geschlechtergerechtigkeit gesprochen wird – auch Migrantinnen gemeint sind.

Die Frauenbewegung darf nicht elitär sein. Sie muss sich gegenüber allen Frauen öffnen – egal aus welcher sozialen Schicht oder welcher Herkunft. Das muss ganz unten anfangen bei der allein erziehenden Mutter, die unterhalb der Armutsgrenze lebt und sich weiterbilden möchte und dann bis ganz oben reichen, zu den hoch qualifizierten Frauen, die es nicht in die Führungsetage schaffen.

Zuender: Deutsche Hochschulabsolventinnen oder Professorinnen Seite an Seite mit türkischen Fließband-Arbeiterinnen und Verkäuferinnen?

S.D.: Die gemeinsame Grundlage ist da: Viele Problemen haben deutsche Frauen und Migrantinnen gleichermaßen. Die Forderung nach Lohngerechtigkeit betrifft zum Beispiel eine Managerin ebenso wie eine Migrantin im Minijob. Die Verantwortung für eine gemeinsame Bewegung liegt bei uns allen. Die privilegierten Sprecherinnen der Frauenbewegung müssen sich öffnen. Gleichzeitig müssen wir, die Migrantinnen, mit unseren Forderungen und Problemen stärker an die Öffentlichkeit gehen. Nur eine gemeinsame Frauenbewegung kann die Forderungen der Mehrheit der Frauen erkämpfen, Einzelkämpferinnen nicht.

Zuender: Laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Frauen und Jugend sind Migrantinnen auch häufiger von häusliche Gewalt betroffen. Während 40 Prozent der befragten Frauen angaben, körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides seit dem 16. Lebensjahr erlebt zu haben, waren es bei den Frauen ost-europäischer Herkunft 44 und bei Frauen türkischer Herkunft 49 Prozent.

S.D.: Dieser Unterschied ist meiner Meinung nach nicht signifikant. Die Zahlen zeigen eher, dass Gewalt gegen Frauen kein spezifisches Problem von Migrantinnen ist, sie betrifft in ähnlichem Maße auch deutsche Frauen. Gut, natürlich spielen auch patriarchale Traditionen eine Rolle – und die sind möglicherweise in Migrantenfamilien stärker ausgeprägt als in deutschen.

Zuender: Möglicherweise?

S.D.: Wir beobachten das in unserer praktischen Arbeit, aber wir sind vorsichtig mit Verallgemeinerungen. Bisher gibt es keine Studien, die das belegen würden.

Zuender: Welche Rolle spielt der Islam?

S.D.: Es ist nicht so, dass der Islam keinen Einfluss hat. In allen Religionen nimmt die Frau eine untergeordnete Rolle ein, sei es im Christentum, im Judentum oder eben im Islam. Die Religion wird dafür instrumentalisiert, die traditionelle Rolle der Frau zu verankern und einen Ausbruch der Mädchen zu verhindern. Da werden immer noch archaische Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit vermittelt, die in Deutschland spätestens seit der Frauenbewegung in den 70er Jahren aufgebrochen wurden. Aber die Gewalt gegen Migrantinnen allein auf die Religion zurückzuführen, finde ich gefährlich. Der eigentliche Kern liegt in den traditionellen, patriarchalen Familienstrukturen und Denkweisen, nicht nur in der Religion.

Zuender: Die Rapperin Lady Bitch Ray ist eine Migrantin der zweiten Generation, die im Moment sehr stark in der Öffentlichkeit steht. Könnte sie zu einer Symbolfigur für junge Migrantinnen in Deutschland werden?

S.D.: Lady Bitch Ray ist keine Vorreiterin der Frauenbewegung, auch nicht innerhalb der Migrantinnen-Community. Sie hat keine Verbindung zur Frauenbewegung. Im Grunde vermarktet sie nur wie viele andere auch ihre Weiblichkeit auf dem musikalischen Wege. Sie ist eine Migrantin, aber das macht sie noch lange nicht zu einer Frontfrau oder Repräsentantin von Migrantinnen in Deutschland. Ich glaube, dass eine Vorreiterin nur aus den Reihen der Frauenbewegung kommen kann.

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28 / 2008
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