Leipzig

Ein Haus, fast umsonst

Viele Tausend Häuser in Leipzig stehen leer und verfallen. Seit drei Jahren vergibt eine Initiative Räume in unsanierten Altbauten fast kostenlos – aber unter der Bedingung, sie in Stand zu halten. Wer lebt und arbeitet in diesen Häusern?

Eine Reportage von Sarah Benecke

„Heute: Pingpong für Dumme” steht auf einem Zettel, der von innen an der Fensterscheibe klebt. Dahinter schimmern graue Wände in einem kahlen Raum. Wie so viele Altbauten im Leipziger Westen sieht auch die Merseburger Straße 17 von außen verlassen und etwas verfallen aus.

Doch der Eindruck täuscht. Simone Herth ist am Freitagnachmittag vorbeigekommen, um nach ihrer neuen Bar zu schauen. Seit Weihnachten werkelt die 22-Jährige an der Einrichtung zweier Räume im Erdgeschoss und hat eine kleine Begegnungsstätte geschaffen, die sie für Lesungen, Partys und zum Pingpongspielen nutzt. Tagsüber arbeitet im vorderen Zimmer ein Künstler, am Freitagabend wird dort kurzerhand eine Tischtennisplatte ausgeklappt. Den hinteren Raum hat Simone Herth in eine kleine Bar verwandelt. Vor dem Fenster hängen rote Gardinen, Tapeten oder eine einheitliche Wandfarbe gibt es noch nicht, den Betonboden bedecken ein paar Teppiche. Wenigstens die Stühle haben dieselbe Farbe. Links ist ein kleiner Tresen aufgebaut, dahinter stehen die Flaschen im Regal aufgereiht.

Leisten kann sich Simone Herth, die am Leipziger Literaturinstitut studiert, die Räume nur, weil sie keine Miete zahlen muss: Das alte Gebäude ist ein sogenanntes Wächterhaus. Da in Leipzig seit der Wiedervereinigung viele Gebäude vom Verfall bedroht sind, vermittelt der Verein “ HausHalten e.V.” seit drei Jahren unsanierte, leerstehende Gründerzeithäuser an Nutzer, die nur für Strom- und Nebenkosten aufkommen müssen. Im Gegenzug halten sie das Haus in Stand. „Jeder macht eben, so viel er kann”, sagt Juliana Pantzer, die im Vorstand des Vereins sitzt. „Die einen renovieren alles, andere wollen nur einen trocknen Raum als Werkstatt oder Atelier.” Besonders für Künstler, Vereine und Existenzgründer sind die Wächterhäuser eine Möglichkeit, sich ohne große Kosten ein eigenes Reich zum Arbeiten zu schaffen. Doch ein wenig sitzt ihnen auch immer die Angst im Nacken: Nach fünf Jahren läuft der Vertag aus. “Wir hoffen natürlich, dass der Nutzungsvertrag verlängert oder in ein geregeltes Mietverhältnis umgewandelt wird”, sagt Pantzer. “Aber wenn der Eigentümer sich entschließt, das Haus zu verkaufen, müssen die Leute raus – womöglich auch schon vor Ablauf der Frist.” Frustrierend wäre das vor allem für jene, die viel Arbeit in Renovierung und Einrichtung gesteckt haben. “Aber die Bewohner wissen, worauf sie sich einlassen. Die meisten machen sich wenig Sorgen.”

Die Tür zum Raum neben der Pingpong-Bar steht offen. Nähmaschinen stehen dort auf langen Tischen, Stoffbahnen liegen daneben, die Dielen sind eierschalenweiß lackiert. Hier hat sich Ines Oberländer ihre Schneiderwerkstatt eingerichtet. Die 33-jährige Beamtin hat ein halbes Jahr darin investiert, neue Dielen zu verlegen und die Wände in freundlichen Farben zu streichen, um eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen. „Wenn ich fertig bin, würde ich in meiner Freizeit gerne Nähkurse anbieten, auch für Kinder. Und die Leute sollen herkommen können, um ihre Sachen mit meiner Hilfe selbst zu nähen.” Eine innovative Idee, die auch den Menschen im Stadtteil zu Gute kommt – das erwartet der Verein von seinen Mitgliedern. Denn nicht nur das jeweilige Haus soll gerettet werden, sondern mit ihm das ganze Viertel.

Im Westen und Osten Leipzigs, wo die insgesamt sieben Wächterhäuser stehen, hat der Verfall bereits bedrohliche Ausmaße angenommen. Zwar wurden seit der Wende achtzig Prozent der Altbauten saniert, die meisten davon allerdings im Stadtkern, wo der Wohnungsmarkt heute relativ ausgewogen ist. Die junge Stadtplanerin Pantzer kennt die Gegensätze nur zu gut. „In der Südvorstadt ist es normal, dass in einer Häuserreihe ein verfallenes Gebäude steht. Im Stadtteil Lindenau ist es umgekehrt: Da sticht das eine Haus hervor, das saniert wurde.”

Von den zwölf Bewohnern der Merseburger Straße 17 dachten die Nachbarn anfangs, sie seien Obdachlose. Das Haus hatte sechs Jahre lang leer gestanden, fremde Leute hatten dort Partys gefeiert, ihren Müll durch die Kellerfenster geschmissen und in den Zimmern ihre Fäkalien hinterlassen. Vor einem halben Jahr fingen plötzlich die Bauarbeiten an. Es wurde gehämmert, gebohrt und entrümpelt und hinter der schmutzigen Fassade fing es langsam wieder an, wohnlich auszusehen. Im zweiten Stock öffnet Alena Bleichert die Wohnungstür. Einige Trennwände hat sie mit ihren Mitbewohnern eingerissen, um drei Wohnungen zu einer 120-Quadratmeter-WG zusammen zu legen. „Hier muss noch einiges gemacht werden”, sagt sie leichthin und deutet auf den langen, kahlen Flur. „Aber die Küche ist schon fast fertig.” Ein großer Esstisch steht hier mitten im Raum, umringt von einem schwarz gemusterten Sofa und Stühlen, die Wand dahinter ist bunt gestrichen. Rechts steht eine Küchenzeile, die den Durchgang ins nächste Zimmer versperrt. Dort trocknet gerade die knallrote Farbe auf den Holzdielen. Betreten verboten.

So einfach, wie das Renovieren aussehen mag, ist es jedoch nicht. Das Wächterhaus ist denkmalgeschützt, und so sitzt das städtische Denkmalschutzamt den freiwilligen Bauarbeitern ständig im Nacken und will über jede Veränderung informiert werden. Und auf einigen Luxus müssen die Bewohner ebenfalls verzichten: Warmes Wasser gibt es nur über einen Boiler, in der Küche bisher gar nicht. „Da überlegt man sich schon sehr genau, was sich lohnt und was nicht”, meint Bleicher. „Für immer ist das nicht gedacht – und es ist ja auch nicht unser Haus.”

Ohnehin besitzt die Wohngemeinschaft einen Sonderstatus, denn normalerweise vermittelt der Verein HausHalten die Wächterhäuser nicht als Wohnraum. Sie sollen ein kultureller Anlaufpunkt im Stadtteil sein, der Vereinen und Künstlerinitiativen „viel Platz für wenig Geld” bietet und etwas zur allgemeinen Lebensqualität beiträgt. „Mieter von Wohnraum könnten bestimmte Forderungen an den Verein stellen, der ja als Vermieter auftritt. Das können wir uns nicht leisten”, gibt Juliana Pantzer zu. Zudem sollen die Wächterhäuser keine Konkurrenz auf dem Mietmarkt darstellen, da schon die Vermittlung komplett sanierter Gründerzeithäuser in Leipzig oft ein schwieriges Unterfangen ist. 55.000 Häuser stehen hier leer, seit der Wende hat die Stadt rund 100.000 Einwohner verloren.

Die Merseburger Straße 17 wäre ohne das unkommerzielle Nutzungskonzept in nicht allzu langer Zeit abbruchreif gewesen. Am Nachmittag sitzen die Bewohner gemeinsam im Hinterhof auf ein paar klapprigen Metallstühlen und genießen die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Irgendjemand hat Kaffee aufgebrüht und Tino Grasselt, ein junger DJ, der gerade den dritten Stock umbaut, raucht genüsslich. Die Gruppe macht einen sehr familiären Eindruck. „In anderen Wächterhäusern geht es aber wesentlich anonymer zu”, sagt Alena Bleicher. Sie seien die einzige Nutzergruppe, die nicht vom Verein zusammen gewürfelt wurde, sondern sich auf eigene Faust gemeinsam auf die Suche nach einem solchen Haus gemacht habe. „Übrigens, vorigen Freitag haben mich schon wieder zwei Leute gefragt, ob wir noch ein Zimmer frei haben”, erzählt Simone Herth und lacht. „Die Nachfrage ist wirklich erstaunlich.”

Doch so skurril es unter den gegebenen Umständen erscheint – das Angebot ist nicht groß. Um ein Gebäude zu einem Wächterhaus zu machen, muss nämlich der Eigentümer zustimmen. Und genau hier liegt das Problem. Oft sind Erbengemeinschaften über ganze Kontinente verstreut oder die Besitzer nach Westdeutschland gezogen und unauffindbar. „Wenn sich zehn alte Omas nicht einigen können, sind wir auch machtlos”, witzelt Stadtplanerin Pantzer lakonisch. „So ist es für den Verein nicht einfach, passende Objekte zu finden und die Verhandlungen mit den Eigentümern erfolgreich abzuschließen, denn diese müssen für Strom- und Wasseranschluss sorgen und haben dadurch erhebliche Investitionen. Momentan stehen 200 Menschen auf der Warteliste, die gern ein Wächterhaus hüten würden, aber alles ist belegt. „Wir verlangen mittlerweile ein Konzept von den Bewerbern”, sagt Juliana Pantzer. „Damit wir nachprüfen können, was sie an dem Haus verändern wollen und ob die Umsetzung funktioniert.” Angesichts der Nachfrage kann der Verein es sich leisten, Bedingungen zu stellen.

In der Merseburger Straße regnet es immer noch durchs Dach. Eigentümer Wolfgang Röder, ein Mann mit freundlichen Augen und knallrotem Hemd, findet die Bewohner im Hof und erkundigt sich, ob schon etwas getan worden sei. Er ist der einzige Wächterhaus-Besitzer, der in Leipzig lebt. Auch er hat das Haus geerbt – eigentlich nur ein Viertel davon. „Jetzt übernehme ich aber hundert Prozent der Kosten”, sagt er, setzt sich auf einen Stuhl und zuckt mit den Schultern. Zu DDR-Zeiten sei das Haus noch voll bewohnt gewesen. „Danach sind viele in den Westen gezogen und haben die Schlüssel an irgendwelche Kumpels weitergegeben.” So war das Haus einige Jahre lang besetzt, ohne dass Miete floss. Als Röder schließlich Strom und Wasser abschalten ließ, demolierten die unliebsamen Bewohner alles – aus Wut und Rache, glaubt er. Das leerstehende Gebäude wurde anschließend mehrfach geplündert, das Treppengeländer war schon nach kurzer Zeit verschwunden, wie es in vielen vergleichbaren Häusern Leipzigs auch geschah. „Eine Sanierung hätte ich mir nicht leisten können”, erzählt Röder und klimpert mit seinem Schlüsselbund. „Allein das Entrümpeln und der Stromanschluss haben schon Unsummen gekostet. Aber jetzt verfällt das Haus wenigstens nicht.”

Das oberste Stockwerk sieht noch aus wie eine Baustelle. Holzbretter lehnen an den Wänden, Farbeimer stehen in einer Ecke, eine Leiter in der anderen. Gemeinsam mit DJ Tino Grasselt wollen hier noch einige Schauspieler und Musiker ihre Ateliers errichten. „Ich bin fast jeden Tag hier”, erzählt der 27-Jährige lächelnd und schaut aus dem Fenster in den Hof hinunter. Dort unten könnte er sich vorstellen, eine Bühne aufzubauen – „für kleine Konzerte oder Partys. Der Garten ist ja groß genug.” Bisher liegt dort allerdings noch ein riesiger Bretterberg hinter einem einsam stehen gebliebenen Tor aus gelben Backsteinen. Das Holzhaus, das früher eine Glaserei beherbergte, war schon zu DDR-Zeiten verfallen und wurde vor Jahren abgerissen. Auf der anderen Seite des Gartens haben die Hausbewohner bereits kleine Beete angelegt, ordentlich mit Steinen umringt und bewachsen von Radieschen oder Kräutern. „Ideen gibt es so viele”, meint Wolfgang Röder schwärmerisch. „Schwieriger ist es, Leute zu finden, die sie umsetzen.”

Simone Herth lächelt. Wenn sie in ein paar Jahren mit ihrem Studium fertig und hauptberuflich Schriftstellerin ist, wird sie schon längst ein eigenes Podium für die Lesungen ihrer ersten Romane besitzen.

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18 / 2007
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