Nach Hause

Meet Möhringen

Wer hier ist, hat schon verloren. Zumindest am Wochenende. Wenn ich alt bin, eröffne ich hier ein Kurhotel

Von Patrick Kennedy

Drei große, weiße Kreuze thronen über dem Berg meiner Heimatstadt Möhringen, die im Tal an der Donau liegt und eigentlich ein eingemeindetes Dörfchen mit längst vergilbtem Stadtrecht ist. In der Ortsmitte steht ein Brunnen mit einer schwarzen Frau darauf. Wegen ihr heißt Möhringen Möhringen. Wenn die Dorf-Eingeboren hier sprechen (und das passiert eher selten), dann verstehen die Besucher des staatlich anerkannten und geprüften Luftkurortes in der Regel nichts. Die Schweizer Grenze ist nicht weit, der Dialekt ist ein hartes Stakkato-Südbadisch, und in einem der Käffer weiter südlich fangen die Menschen sogar schon an, ihre „ch“-s zu krächzen.

Ein dichter Wald umgibt mein Dorf, und trotz der nahe gelegenen Bundesstrasse herrscht hier tiefe Stille. Der Nebel über dem Fluss verschluckt alles. Man atmet frische Bergluft und manchmal gibt es im Winter sehr viel Schnee.

Der frühere katholische Pfarrer von Möhringen, eine Ikone der Stadt und Weltkriegsveteran (Frankreich, Italien, Russland), hat uns in der Grundschule persönlich in katholischer Religion unterrichtet. Manchmal ist er dabei ausgerastet und hat Mäppchen und Schulranzen aus dem Fenster geschmissen und saftige Ohrfeigen verteilt. Er hat uns erzählt, dass unsere Möhringer Vorfahren schon für Napoleon vor Moskau gefallen sind.

Zur Karnevalszeit geht es in Möhringen hoch her: Das Narrentum ist ein sehr alter Brauch, mitsamt der geschnitzten Holzmasken und aufwendigen Kostüme. Als Kind war das spannend, weil man sich verkleiden konnte und es Leckeres zu essen gab – als Teenager war es spannend, weil rund um die Uhr gesoffen wurde, und heute geht man nicht mehr hin, weil man die Leute von damals nicht mehr treffen mag.

Nach der Schule haben wir meistens Fußball gespielt. Ich vermisse es, mit meinen Freunden von damals zu kicken, bis wir den Ball in der Dunkelheit irgendwann nicht mehr sehen konnten. Als Jugendlicher hat man am Wochenende in Möhringen verloren: Entweder man geht in die Nachbarstadt Tuttlingen (30.000 Einwohner trotzdem nicht los), oder in eine Überlanddisko, oder man bleibt gemütlich daheim.

Wenn ich jetzt wieder nach Möhringen komme, dann freue ich mich auf die Stille und die Natur, und auf das einfach gestrickte Leben, das die Menschen hier führen. Ich mache mit meinem besten Freund einen ausgiebigen Waldspaziergang, und wir bereden stundenlang philosophischen Quatsch. Im Frühling hören wir Spechte klopfen, im Sommer schnarchen dicke Igel im Gebüsch, und im Winter zwitschern gut gepolsterte Spatzen uns ein Lied. Abends schießen wir uns im Partykeller seiner Eltern mit Bieren und Schnäpsen ab, bis wir nicht mehr reden können.

Mein bester Freund und ich haben beschlossen: Wenn irgendwann die Geschäfte nicht mehr ganz so dufte laufen, kommen wir zurück nach Möhringen und machen eine Kurstation für Großstadtneurotiker auf. Mit allem, was dazu gehört: Holz sägen und Garagentore streichen, Kühe melken und Traktor fahren; anschließend Besuch im Schützenhaus oder in der Kegelstube. Es wird auch einen Minigolfplatz mit Kneipe geben, und ein Naturfreundehaus. Da verkaufen wir Salzstängel, Spezi und Most.

Über die Feiertage wird es einsam in der Stadt: Alle fahren da hin, wo sie mal herkamen. Wo ihre Familie lebt und die alten Freunde. Heimat. Wie es dort ist und was das für sie bedeutet, werden Zuender-Autoren in den nächsten Tagen hier aufschreiben zuender.zeit.de/heimat

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52 / 2006
ZEIT ONLINE