Nach Hause

Weiter ins Nirgendwo

Mein Zimmer ist jetzt ein Büro, im Regal steht John Grisham. Habe ich hier wirklich mal gewohnt? Heimat, vierter Teil

Von Sebastian Hasselmut

Die hellbraune Frikadelle ist trocken wie Staub. Egal, ist eh nichts anderes da. Ich lege sie auf das Brötchen und eine mindestens fünf Millimeter dicke Schicht aus feinster deutscher Markenbutter. Zuoberst serviere ich mir einen großen Klecks Bautz’ner Senf. Aus der Tube, selbstverständlich. Ich schaue aus dem Fenster. Das leere Brandenburg rauscht mit einhundertsiebzig Kilometern pro Stunde an uns vorbei. Viele Rapsfelder gibt es und noch mehr Windräder. Und Kiefern, überall Kiefern. Kaum einmal ein Haus oder sogar eine Stadt.

In unserem dunkelblau-violetten VW Passat steht der Rauch etwa in Nasenhöhe, die Augen brennen ein wenig. Mein Vater sitzt am Steuer, qualmt eine nach der anderen und fährt mich nach Hause. Damit ich es überhaupt aushalte, rauche ich alle fünf Zigaretten, die mein Vater raucht, eine mit. Ich rede und rede und rede, ein einziger Fluss. Mein Vater: Er schweigt. Manchmal aber fragt er auch. Zum Beispiel wenn wir aufs Finanzielle zu sprechen kommen oder was denn jetzt noch mal mit dem Studium sei. So fahren wir also dahin, durchschneiden mit unserem Qualitätsfahrzeug Made in Germany die Wiesen und Felder von Ostdeutschland. Ein Schild, weiße Schrift auf blauem Grund: "Cottbus 79 km".

Gestern habe ich eine Reportage gelesen, über Cottbus. Darin stand, dass man als ausländisch aussehender oder farbiger Mensch nicht mehr in bestimmte Gegenden und das Stadtzentrum gehen kann, ohne Angst haben zu müssen. Wie viele Leute auch fortziehen, die Nazis scheinen zu bleiben. Cottbus, bist du eine No-Go-Area?

Wie sieht es da überhaupt aus? Ganz einfach: Ein schnuckelig sanierter Platz ("Altmarkt") mit einigen Häusern aus der Gründerzeit, eine klitzekleine Universität, eine Einkaufsstraße ("Die Sprem", eigentlich Spremberger Straße) und drumherum kleine Trabantenstädte aus Plattenbauzeiten. 100.000 Einwohner sind noch da, früher waren es einmal 140.000. Nichts besonderes also, diese Stadt. Jedenfalls nicht im Osten Deutschlands.

Ich war ein Jahr alt, da sind meine Eltern mit meiner Schwester und mir aufs Dorf gezogen, ein paar Kilometer südöstlich. Noch weiter ins nirgendwo. Dorthin, wo die Busse sonntags genau zwei Mal fahren. Einmal in die Stadt und einmal zurück.

Wir nehmen jetzt die letzten Kurven, ich kann schon die Einfahrt zu unserem Haus sehen. Auf den Straßen sieht man keinen Menschen. Ich höre die Geräusche, die mir sagen, dass wir angekommen sind. Der knisternde Sand unter dem Auto, der bellende Hund hinter dem Eingangstor unseres Grundstücks.

"Auf der Straße regen sich nicht einmal die Blätter", sagt meine Mutter. Wir sitzen in der Küche, Einbauschränke dunkle Eiche rustikal, die Wände Ton in Ton mit Panelen verkleidet. Das Telefon gibt einen grellen Ton von sich, wir müssen unser Gespräch unterbrechen. Verwandte leisten heute einen ihrer zwei Anrufe pro Jahr ab. Meine Augen werden glasig, die süße Frucht der Langeweile pendelt vor ihnen herum. Da beiß ich doch gleich mal rein, wa!?

"Was willst du eigentlich später machen?" fragt sie. Ich erkläre es ihr, zum einhundertsten Mal. Ich simuliere Begeisterung. Es ist alles wie immer. Ist alles wie immer?

Nein! Ich habe Veränderungen bemerkt, echte Umwälzungen! Es gibt da diese neue Bushaltestelle im Nachbarort, da war ja vorher keine. "Bestimmt, weil da jetzt so viele in zweiter Reihe ein Haus gebaut haben", meinte mein Vater vorhin im Auto. Eine Bushaltestelle, in dieser Gegend. Mit den zwei Fahrten am Wochenende. Überhaupt, diese Bushaltestellen.

Ein rasanter Schwenk zurück zu unserem dreitausend Quadratmeter großen Gründstück, das gegenüber einer spätromanischen Kirche und einer Großbäckerei liegt. Direkt vor unserem Haus gibt es zwei Bushaltestellen. Da haben früher immer die 13-17jährigen herumgesessen, manchmal stundenlang und haben mit Spucke Seen unter sich gemacht. Oft haben sie auch noch billigen Schnaps und Bier der Marke Sternburg getrunken. Einmal, in einer Nacht vor dem ersten Mai, haben sie unser Haus mit Dreck und Eiern beworfen. Ob der feige Angriff mir galt oder nur das Resultat von Idotie war? Ich weiß es bis heute nicht. Die Reste der geworfenen Eier aber sind immer noch am Haus zu sehen.

Ich stehe in meinem ehemaligen Zimmer in der ersten Etage und schaue auf die Haltestellen, auf die Straße und den Bürgersteig. Nichts passiert. Es ist still.

Meine Mutter hat das Zimmer in den letzten Jahren zu einem Büro umgebaut. In der Mitte des Raumes steht jetzt ein gefliester Tisch, ockerfarben und mit gezeichneten Kastanien drauf. In den selbst gebauten Regalen stauben Bücher ein, die ich damals nicht mitnehmen wollte. Stephen King, John Grisham, war es wirklich ich, der hier mal wohnte? An der Wand hängen zwei Fotos von mir. Eins ist schwarz-weiß und aus der DDR. Ich trage Hosenträger. Das andere, neuere, zeigt mich mit vollendet debilem Gesichtsausdruck und einer Prinz-Eisenherz-Frisur. Ich möchte das Foto nehmen und verbrennen.

Ich schalte den Fernseher ein und schaue Wer wird Millonär? . Das ist eine meiner liebsten Sendungen im Fernsehen. Ich fange an zu dösen, meine Lider werden schwer. Ich beginne zu träumen. Der Kopf meiner Mutter kreist (wie die Erde um die Sonne) vor einem regenbogenfarbenen Hintergrund um mich herum. Sie ruft nach mir, sie sagt "Ich verstehe dein Leben nicht mehr" und "Du wolltest mir doch mal diese Sache mit dem Computer zeigen" oder "Nie kann man es dir recht machen". Ihr Kopf dreht sich schneller, schneller, schneller. Ich kann nicht mehr folgen, alles verschwimmt. Plopp! Macht es und alles wird schwarz. Ich schlummere friedlich.

Endlich erlebe ich Weihnachten so, wie ich es immer wollte: Schlafend.

Über die Feiertage wird es einsam in der Stadt: Alle fahren da hin, wo sie mal herkamen. Wo ihre Familie lebt und die alten Freunde. Heimat. Wie es dort ist und was das für sie bedeutet, werden Zuender-Autoren in den nächsten Tagen hier aufschreiben zuender.zeit.de/heimat

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52 / 2006
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