Kolumne
Soundtrack
Wenn ich mit meinen Kopfhörer auf den Ohren durch die Straßen gehe, habe ich oft das Gefühl in einem Film zu sein. Manchmal ist es ein ziemlich schlechter Film, aber mir gefällt der Soundtrack
Das ist nicht ganz richtig, ich habe meist nicht das Gefühl in einem Film zu sein, sondern einen Film zu sehen. Ich komme mir vor wie ein Zuschauer, aber gleichzeitig bin ich ganz in meiner eigenen Welt. Das führt oft dazu, daß ich mir die Menschen sehr genau ansehe, eine besondere Nase, ein Muttermal am Ohrläppchen, ein Schlüsselbein, dessen Schwung so aussieht, als könnte er mich in eine Liebesgeschichte katapultieren. Sehr häufig sehe ich den Leuten auch in die Augen, hemmungslos, offen und lange. Möglicherweise wirke ich etwas abwesend und gleichzeitig aufdringlich dabei, weil ich einfach das Bewußtsein dafür verliere, daß das echte Menschen sind, die sich belästigt fühlen könnten. Die Musik schneidet mich ab von der Außenwelt, ich habe nicht mehr das Gefühl, daß ich dazugehöre und wenn ich schon außerhalb bin, kann ich mir auch alles ganz genau anschauen. Was manchmal eben dazu führt, daß ich hineinfalle, in Augen, in nackte Schultern oder wunderbar schiefe Zähne. Ohne Musik würde ich mich nie trauen, so zu gucken.
Vielleicht sollten wir alle viel mehr Musik hören und uns mehr ansehen, vielleicht bringt es ja was, es passiert sowieso selten genug, daß zwei Menschen das Gefühl haben im selben Film gelandet zu sein.
20 /
2006
ZEIT ONLINE