Kolumne
Entlegene Möglichkeiten
Richard Brautigan konnte schreiben wie kein zweiter. "Warum kennt ihn bloß niemand?", wundert sich
Es gibt immer wieder Menschen, die auf dem Gebiet, auf dem sie sich betätigen, Ausnahmeerscheinungen sind, zumindest zu ihren Lebzeiten. Sie kommen, machen etwas, das niemand vor ihnen so gemacht hat und wenn sie gehen, sind die anderen meist nicht mal in der Lage, das zu kopieren. Picasso mag so jemand gewesen sein, Charlie Chaplin, Buddha, Michael Jordan, Marlon Brando. Wow, ich mag es, diese Namen alle in einem Satz zu schreiben, aber egal ...
Richard Brautigan ist auch so einer, der entlegene Möglichkeiten verwirklicht hat und geschrieben hat, wie niemand vor ihm. Woher hat er diese Melancholie, woher die Bilder, woher die Vergleiche? habe ich mich immer gefragt, wenn ich ihn früher gelesen habe. Wie kann man eine Metapher finden, die zugleich total abgedreht und treffend ist? Wie kann man ein Wort wieder und wieder in aufeinanderfolgenden Sätzen wiederholen und es klingt nicht nur nicht blöd, sondern als wäre es die einzige Möglichkeit, gut zu schreiben. Wie kann man so viel Wärme in einen Text legen, dass man beim Lesen das Gefühl bekommt, man würde am Kamin sitzen? Wie kann jemand so schreiben, wo hat er das her?
Jahre sind vergangen, seit ich Brautigan für mich entdeckt habe. Und so wie fast jeder Picasso, Charlie Chaplin, Buddha, Michael Jordan und Marlon Brando kennt, gehe ich immer davon aus, dass fast jeder, der liest und einen ähnlichen Geschmack hat wie ich, auch schon von Richard Brautigan gehört hat. Das ist fast nie der Fall.
Murakami hingegen, der mich langweilt, weil er sich in meinen Händen unter anderem so liest, als sei er eine billige, verwässerte, abgekupferte Version von Brautigan, kennen viele. Und er gibt sogar zu, von Brautigan beeinflusst zu sein.
Nein, nein, es geht hier nicht um Gerechtigkeit oder darum, anderen meinen Geschmack aufzudrücken. Ich wundere mich nur. Ich wundere mich, weil Brautigan so leicht zugänglich und so schön ist. Ich wundere mich, weil er mir so viele grandiose Stunden beschert hat. Schließen wir mit einem Gedicht von ihm:
Erinnerungen an Jesse James
Ich weiß noch alle die Tausende von Stunden,
die ich in der Grundschule auf die Uhr geschaut
und auf die Pause oder das Mittagessen gewartet habe
oder darauf, nach Hause zu gehen.
Warten: auf alles, nur nicht auf die Schule.
Meine Lehrer hätten leicht mit Jesse James
reiten können,
wenn man die Zeit bedenkt, die sie mir
gestohlen haben.
20 /
2006
ZEIT ONLINE