Menschenbild

"Verstehen haben sie mir nicht beigebracht"

Martin wollte Lehrer werden, doch die Schüler bewarfen ihn mit Kreide. Er passt einfach nicht in diese Welt

Die Kolumne von Selim Özdogan

Während meiner Yogalehrerausbildung in einem Seminarhaus im Teutoburger Wald saß er eines Mittags beim Essen neben mir und wir kamen ins Gespräch. Nach den ersten Sätzen war mein Interesse geweckt, schon allein, weil er hier wegen des gesunden und billigen Essens herkam mit dem ganzen Yogakram aber nichts zu tun hatte. Auch sonst war er ein eigenartiger Mensch. 

Ich verstehe die Leute nicht, sagte er, mein ganzes Leben ist voller Mißverständnisse. Wenn ich nur eines aufklären will, enstehen zehn neue. Lesen und schreiben haben sie mir beigebracht, zuhören und verstehen aber nicht.

Doch er hatte auch gleich eine Erklärung parat: Vielleicht hat der Herr mich so erschaffen, damit ich ihm näher bin und mich nicht so unter den Menschen verliere.

Er war kauzig und bizarr, ein Mann um die vierzig mit einem Vollbart. Ein wenig erinnerte er mich an einen Waldschrat. Ich sah zu, neben ihm zu sitzen, wenn er mittags kam und bezahlte, um sich am Buffett zu bedienen.

Ich bin ja nicht blöd, sagte er eines Tages, ich habe ja studiert.

Wir hatten schon zwei Mahlzeiten gemeinsam gehabt und mir war klar, daß es ihm nicht an dem mangelte, was man gemeinhin Intelligenz nennt. Was aber nicht dazu beitrug, daß er mit den Menschen, denen er begegnete, eine gemeinsame Ebene finden konnte.

Ich hatte auch etwas herausgefunden über seine Neigungen und Interessen und sagte: Laß mich raten, du hast studiert: Theologie – Nicken, Geschichte – wieder Nicken, Politik wieder Nicken.

Und Soziologie, fügte er hinzu. Ich wollte ja Lehrer werden, aber dann kam das Referenderiat und ich habe festgestellt, daß ich für diesen Beruf völlig ungeeignet bin. Die Schüler haben mich mit Kreide beschmissen. Man kann doch nicht jeden auf Lehramt studieren lassen, man muß doch vorher prüfen, ob die Menschen auch fähig dafür sind, regte er sich auf. Jahrelang studiert und dann ist es für die Katz.

Seine Stimme war lauter geworden und Essenreste fielen aus seinem Mund in seinen Bart.

Ich verstehe schon, was du meinst, aber das ist ja nicht so einfach, versuchte ich ihn beschwichtigen. Wie will man das denn genau machen, wie stellst du dir das vor? Grundsätzlich würde ich dir ja recht geben, auch bei mir an der Schule liefen hauptsächlich Lehrer herum, die völlig ungeeignet waren, aber da ist ja total schwer, wo soll man da denn ansetzen, wenn man sieben will?

Schwer, schwer, sagte er, ich sage dir mal was schwer ist: Eine Herzoperation ist schwer. Führt das etwa dazu, daß die nicht gemacht werden?

Er hieß Martin und ich mochte ihn, sein Weltbild war absolut logisch und folgerichtig. Es passte nur nicht in diese Welt.

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26 / 2008
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